Bernd von der Walge
Bernd von der Walge
Bernd von der Walge
Bernd von der Walge
Das Serbische Königsreich 1915

Branislav Nušić -1915 - Leseprobe

Die Zahlen in runder Klammer bezeichnen die Kapitel der serbischen Gesamtausgabe.

Die Zahlen in eckiger Klammer entsprechen den Seitenangaben der Printausgabe.

Die rot unterlegten Überschriften wurden hier als Leseprobe ausgewählt.

 

nhalt

Zu diesem Buch (Von Bernd E. Scholz)  [6]

Epitaph für den gefallenen Sohn [9]

(01)  Die letzten Septembertage  [11]

(02)  Vive les Al...!  [30]

(03)  Das Schiff sinkt  [46]

(04)  Ein Flüchtlingszug  [60]

(06)  Die Flucht  [74]

(07)  Die letzte Hoffnung  [90]

(08)  Eine Schlacht  [100]

(10)  Die Flüchtlinge von Toplica  [125]

(14)  Durchs Kosovo  [136]

(15)  Die Tragödie eines Malers  [144]

(16)  Die Geschichte einer kleinen Schlacht  [158]

(17)  Vierzigtausend Märtyrer  [181]

(18)  Der Roman eines kleinen Mädchens  [195]

(20)  Belgrad  [220]

(27)  Kinder ohne Vaterland [236]

(32)  Peć  [249]

(33)  Letztes Röcheln  [260]

A n h a n g (Von Bernd E. Scholz)  [283]

Kriegskarte von Serbien 1915  [284|

Nušićs Fluchtweg vom Dezember 1915 bis Januar 1916  [285]

Erläuterungen zum Namen- und Ortsverzeichnis   [286]

Nušićs Fluchtpunkte im Kosovo im Oktober und November 1915 [289]

Namen- und Ortsverzeichnis  [291]

Bild- und Kartennachweise  [334]

Zum Autor  [336]

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6

Die Flucht

 

Während früher nur ein Teil der Flüchtlinge in Priština und Mitrovica Zuflucht gesucht hatte, drängte sich ab dem Moment, als die Eisenbahnlinie nach Thessaloniki unterbrochen war, alles ins Kosovo. Aus Niš, das bis dahin das größte Flüchtlingszentrum Nordserbiens gewesen war; aus Kruševac, dem zweitgrößten, und aus Skopje, dem dritten der Größe nach, strömte alles nach Priština, Mitrovica und Ferizović. Nach Niš, Kruševac und Skopje zogen auch alle umliegenden Ortschaften von der Morava und dem Ibar ins Kosovo hinunter: Čačak, Kraljevo, Aleksinac, Vranje und Leskovac, und verstopften die Straßen, die von Norden, Osten und Westen ins Kosovo führten.

Die kleinen und engen Städte des Kosovo, Mitrovica, Priština und Ferizović konnten eine solche Menschenmasse nicht aufnehmen. Es gab ein paar leer stehende türkische Häuser, es gab auch serbische Häuser, deren Türen denjenigen, die sie drei Jahre zuvor aus Sklaverei im Kosovo gerettet hatten, weit offen standen; doch das alles reichte nicht aus. Die Menge strömte herbei, sie strömte aus verschiedenen Tälern und Engpässen, sie stieg von den Bergen herab und näherte sich den Straßen, sie wogte wie eine Sintflut und erfüllte die schmalen Straßen dieser Städte, so dass man in dem Gedränge nicht einmal mehr auf der Straße vorwärts kam. Um das Fass zum Überlaufen zu bringen, trafen auch noch Flüchtlinge aus Gilan und den Dörfern an der Morava ein, dazu noch Heereskommandos ohne Heer und Heere ohne Kommando, es kamen riesige Massen an Rekruten und ganze Bataillone von Gefangenen. Die Erde stöhnte, die Straßen bekamen Risse, die Menschenmengen und -massen drohten zu ersticken.

In Priština, wohin der kürzeste Weg für all dienigen führte, die aus Kruševac, Niš, Prokuplje, Vranje und Kuršumlija geflohen waren, entstand ein derartiges Gedränge, dass es Momente gab, in denen die Hauptstraße von Militär und Gendarmerie abgesperrt werden musste, um den Durchgang für jene zu gewährleisten, die ihre Reise nach Lipljan und Prizren fortsetzten. Die ersten eintreffenden Menschenmengen fanden auch noch eine Unterkunft, doch die nachfolgenden bettelten bereits verzweifelt um ein bisschen Dach über dem Kopf, nur ein Dach, ohne Bett, ohne Feuer, ohne Essen. Der Bürgermeister gab die Schlüssel der leer stehenden türkischen Häuser aus, und in deren geräumigen Zimmern und Gängen entstanden ganze Feldlager. Man [075] schlief auf dem nackten Fußboden, aber es gab wenigstens ein Dach über dem Kopf, das Schutz vor dem Regen bot, und es gab Mauern, die vor dem Wind schützten, obwohl es  durch die zerbrochenen Fenster der alten und verlassenen Häuser unbarmherzig zog.

Und während diese Menschen zufrieden waren, weil sie wenigstens so viel gefunden hatten, kamen neue und immer wieder neue Flüchtlinge nach. Wie Welle auf Welle des unruhig an den Strand brandenden Meeres wurden an die Ufer dieser Flucht nach einander immer neue Massen an Flüchtlingen angespült. Platz gab es keinen mehr, weder in den Häusern noch in den Wirtschaften oder den Lagerräumen. Man schlief bereits da, wo es sich eben ergab: auf dem Ladenflügel eines Geschäfts oder darunter, in Ställen, Schuppen, auf Dachböden, bis man schließlich, in den letzten Tagen, anfing, auch auf der Straße zu schlafen. Wo ein türkisches Haus ein bisschen Vordach und damit einen halben Meter oder etwas mehr trockenen Boden bot, legten sich die Soldaten, Rekruten und Flüchtlinge nieder, den Rücken an die Hauswand gelehnt, um mit dem ganzen Körper im Trockenen zu schlafen und für die Durchgehenden Raum zu lassen.

Und das alles zu einer Jahreszeit, in der der Herbstregen gnadenlos schüttet und in den endlosen, trüben Herbstnächten der messerscharfe Kosovo-Wind heult.

In den Straßen, durch die sich all diese Leute schieben, hat sich ein wahrer Schlammsee gebildet, den man, wenn man von einer Straßenseite auf die andere gehen will, überwinden muss. Die Leute sind schmutzbedeckt, Männer wie Frauen tragen mehrere Schichten Schlamm an ihrer Kleidung, die Folgen von bereits mehreren Tagen auf den Straßen von Priština, die Schuhe feucht und nicht geputzt, die Gesichter ungewaschen, die Haare ungekämmt. Und trotzdem warten all diese Menschen auf etwas, hoffen auf etwas. Sie versammeln sich in besorgten Gruppen, die sich untereinander unterrichten und trösten. Eine Menschenmenge gleich vor der Moschee, eine andere vor dem Tor des Bürgermeisters, eine dritte im Hof des Bürgermeisters, eine Vierte unter dem Vordach eines Ladens, eine fünfte auf dem heruntergeklappten Fensterladen eines türkischen Cafés, eine sechste wieder mitten auf der Straße, ebenso eine achte, ebenso eine neunte, und ebenso alle übrigen der Reihe nach. Alle flüstern, alle reden ein und dasselbe, ein und dieselbe Nachricht wird von Gruppe zu Gruppe weitergegeben, wird mit Erläuterungen überarbeitet und kehrt schließlich zu der Gruppe zurück, von der sie ausgegangen ist, und von da aus zieht sie weiter, [076] durch die Geschäfte und Lokale, zieht in die Häuser und überschwemmt die ganze Stadt. Man redet gleichzeitig über alles, über die großen Sorgen und die kleinen, die persönlichen Kümmernisse, über Rumänien und sein Verhalten, über den Preis des Hirsebrotes, über die Hilfe, die aus Russland kommen soll, und darüber, dass kein Tabak mehr zu bekommen ist, kein Zucker und kein Salz. Wenn es keine wichtigeren und zuverlässigen Nachrichten gibt, verfolgt die Menge selbst die kleinste Bewegung und interpretiert sie: Eine Ordonnanz ist in höchster Eile aus Gilan gekommen, zwei Militärs im Range eines Oberst sind aus dem Obersten Kommando eingetroffen und fahren nach Prizren; seit dem Morgen hebt keiner beim Bürgermeister von Gilan mehr das Telefon ab. Und jedes Phänomen, jede Bewegung liefert Material für breitgefächerte Mutmaßungen und vielfältige Hoffnungen oder Ahnungen.

Die Gruppen halten sich in ihren Gesprächen nicht lange bei einem Gegenstand auf. Das kleinste neue Phänomen, das jemand entdeckt hat, lenkt das Gespräch sogleich auf eine andere Sache. Diese Gespräche werden nicht einmal von denselben Personen geführt; Einer hat angefangen, sich dann zurückgezogen und ist auf eine andere Gruppe zugegangen, und ein Anderer, der gar nicht dabei war, sondern erst später hinzugekommen ist, fährt fort. Es gibt auch Gruppen, die sich zusammengefunden haben und schweigen. Da stehen fünf, sechs Leute im Kreis, schweigen beharrlich und verfolgen die Ereignisse nur mit den Blicken, tauschen sich auch nur mit Blicken darüber aus. Dann gibt es wiederum solche, die von Gruppe zu Gruppe gehen, um etwas zu hören, wie ein Bettler, der an die Türen kommt, um etwas zu erbetteln. Sie gehen auf eine Gruppe zu, weil es ihnen scheint, als würde hier lebhaft über etwas gesprochen. Da sie feststellen, dass es sich um ein ganz gewöhnliches Gespräch handelt, mustern sie von hier aus die übrigen Gruppen, und wo sie einen Herrn gestikulieren sehen, da glauben sie, dass dort über etwas Wichtiges geredet wird, und gesellen sich zu der neuen Gruppe, wo sie wieder enttäuscht werden. Und so bewegen sie sich von Gruppe zu Gruppe, vom frühen Morgenrot bis zur finstren Nacht, um sich schließlich erschöpft und uninformiert unter ihr Obdach zurückzuziehen und am nächsten Tag dieselbe Tätigkeit wieder aufzunehmen.

Am Vormittag, wenn sich der größte Teil in die Cafés und Häuser zurückgezogen hatte, um zu essen, nahm die Zahl der Grüppchen kaum ab, denn eine große Mehrheit aß auch auf der Straße, im Stehen. Ein Stück Brot, das nur unter größten Mühen zu bekommen war, und irgendetwas [077] dazu, was es beim Geflügelhändler zu kaufen gab oder im Milch- und Käseladen oder beim Fleischer. Hier hat eine Gruppe auf einem fremden Türladen ein Tuch mit Essen ausgebreitet und isst, dort lehnt einer an einer Mauer, an einem Laternenpfahl der Gemeinde, bricht mit den Händen Stücke von einem unter den Arm geklemmten Stück Brot ab und nimmt dazu harten, in gelbes Papier eingewickelten Käse. Und dieser selbe Mann hat erst ein paar Tage zuvor mit einer weißen Serviette auf den Knien lässig die Speisekarte überflogen und Portionen zurückgehen lassen, weil ihm das Fleisch zu mager war, und den Kellner drei Mal nach Brot mit weicher Kruste geschickt. Einer sitzt auf einem Stein, ein Anderer auf einer leeren Truhe vor einem Geschäft, ein Dritter auf dem Boden. Eine Belgrader Familie, die man bei Premieren im Theater sieht und in deren Salons Chopin, Grieg und Tschaikowski regieren, die einem Mädchen den Dienst aufgekündigt haben, weil es in dem und dem Laden Konfekt gekauft hat, wo es nie frisch genug ist, wartet seit Stunden verzweifelt vor der Stube eines Ćevapčićiverkäufers, in der Hoffnung, irgendwann an die Reihe zu kommen und ein paar Ziegenćevapčići kaufen zu können, um sie anschließend aus alten Zeitungen mitten auf der Straße in Priština mit den Fingern zu essen.

Feuer, an denen hier und da etwas gekocht wird, brennen auf den Höfen und in den Straßen. Oberhalb des Bürgermeisteramtes, neben der Bajazit-Moschee, halten Wagen eines bestimmten Kommandos, und unter diesen Wagen sind sowohl Schlaflager als auch Küche und Kanzlei. Unter den Wagen hat man Heu zum Schlafen ausgebreitet, neben den Wagen unter einem Zeltflügel eine Truhe zum Schreiben aufgestellt, und nicht weit davon kocht auf einem Feuer ein Topf, aus dem das Personal des Kommandos gleich essen wird. So ist es auch an anderen Orten, ebenso auf einzelnen Höfen, auf dem Schul-, Kirch- und Herbergshof und wo man sich eben hat Zutritt verschaffen können und wo Platz für die hereinströmende Menge war.

Andere wiederum gehen mit einem Stück Fleisch von Feuer zu Feuer, gehen sogar zu den Lagern außerhalb der Stadt, und bitten darum, ihr Fleisch auf die Gut zu werfen; wieder andere, diejenigen, die am meisten Glück hatten, haben in den Lokalen von Priština gegessen. Diese versuchten in den ersten sieben oder acht Tagen noch, die Flüchtlinge mit Essen zu versorgen, doch als dann das Brot knapp wurde und es zu einem Massenandrang kam, so dass die Nahrungsmittel allmählich ausgingen, schlossen auch sie die Läden vor ihren Fenstern und vergrößerten damit die Zahl der Hungrigen. [078]

Wenn am Mittag die größte Sorge, das Essen, überstanden war, dann kamen die Menschen wieder aus den Häusern, aus den Höfen, den Herbergen und aus den verschiedensten Winkeln heraus, wo sie sich verborgen hatten, um einen Bissen zu sich zu nehmen, und versammelten sich wieder in Gruppen, jenen Gruppen, die von morgens bis zum Einbruch der Dunkelheit auf der Straße standen, auf etwas warteten und selbst nicht wussten, worauf.

Die größte Anzahl dieser besorgten Gruppen findet man vor dem gemeinsamen Gebäude von Bürgermeisteramt und Division. Hier kann am ehesten irgendeine Nachricht durchdringen oder wenigstens ein Brosame vom Tisch fallen, und das genügt denjenigen, deren Seele vor Sorge darbt. Von dort aus dem Gebäude kommt zuweilen ein Herr heraus, der beim Bürgermeister gewesen ist, oder sonst jemand, der beim Divisionsführer war, und dann wird er von den besorgten Gruppen sofort umlagert. Diese Nachrichten sind für gewöhnlich nicht günstig, obwohl Regierung, Militär und Zivilverwaltung sie um jeden Preis in eine tröstliche Form kleiden wollen. Vom Osten her kommt die Meldung, dass die Bulgaren aus den montenegrinischen Bergen in die Morava herabsteigen und dass sie mit einem nächtlichen Überfall in den Engpass von Kačanik und die Kleinstadt Kačanik selbst eingedrungen seien; von der anderen Seite, vom Norden und Nordosten her, wird gemeldet, dass Kämpfe in der Janko-Schlucht geführt werden und dass die Bulgaren auf Lebane zumarschieren. Um uns wie mit bitterer Medizin die Wunden zu verbinden, wurden uns daneben auch tröstliche Nachrichten gemeldet: Die Franzosen drängten in großen Massen nach Veles vor, Rumänien habe Bulgarien den Krieg erklärt, der russische Zar habe dem Thronfolger persönlich telegraphiert, dass eine große Armee von 500.000 ausgewählten russischen Soldaten unter dem Kommando eines erfahrenen, erprobten Generals in den ersten Novembertagen die Donau überqueren werde.

Wenn man sich diese Nachrichten angehört hatte, ging man nach Hause, um den Seinen, die besorgt unter irgendeinem ärmlichen Dach saßen, die Nachrichten von der Front zu verheimlichen und ihnen nur die großen, tröstlichen Neuigkeiten über die Franzosen, die Russen und Rumänen mitzuteilen. Man verließ die Hauptstraße vor dem Bürgermeisteramt, man verließ dieses Gewirr und Gelärm der Menschenmenge, der Pferdewagen und der Automobile, und begab sich in die stillen Nebenstraßen, von wo man deutlich den Kanonendonner aus Montenegro und Kačanik hören konnte. Man kehrte zu der Gruppe [079] zurück, die verzweifelt und beharrlich noch immer vor dem Bürgermeisteramt herumlungerte, schloss sich ihr wieder an und trieb sich so den ganzen Tag herum, ohne dass man noch wusste, was man denken und wem man glauben sollte, sondern man überließ sich der Menge und wartete mit ihr zusammen auf etwas und wusste nicht, worauf.

Diese Gruppen wichen von Zeit zu Zeit auseinander, um einen Pferdewagen oder ein Automobil durchzulassen, und fanden sich dann wieder zusammen, um das Durchfahren dieses Wagens zu interpretieren, wenn sie auch nur irgendetwas entdeckt hatten, das ihnen Anlass dazu gab.

„Seht ihr, Leute, dass auf diesem Wagen irgendein Archiv ist?“

„Na und? Es ist weder das erste noch das letzte.“

„Ich weiß, aber dieser Feldwebel auf dem Wagen kommt mir irgendwie bekannt vor. Bei meiner Seele, das wird das Archiv des Obersten Kommandos sein.“

„Das kann nicht sein. Das Oberste Kommando ist in Raška; das weiß ich aus sicherer Quelle.“

„Das weiß ich auch, aber wenn hier das Archiv ist, dann kommt das Kommando hinterher.“

„Und?“

„Und das würde bedeuten, dass es da oben ganz schlecht steht.“

Oder wenn in dem Wagen kein Archiv war, dann war es irgendeine Familie, die ebenfalls Anlass zu Mutmaßungen und Interpretationen gab.

„Die kenne ich, das ist die Familie von dem Obersten der und der Armee.“

„Siehst du, die bleiben nicht hier, die fahren geradewegs nach Prizren.“

„Und der als Oberst weiß bestimmt, wie die Dinge liegen.“

„Und wo ist seine Armee?“

„Oben. Davor habe ich ja am meisten Angst, dass es da zu einem Gedränge kommt und sie alles niederrennen und die Straßen blockieren. Besser wir machen uns vorher davon.“

Von Zeit zu Zeit weicht die Menge stumm auseinander und lässt einen einzelnen Kutschwagen, der gemächlich aus dem Hof des Bürgermeisteramtes fährt, kommentarlos durch. Auf diesem Wagen sitzt neben dem Kutscher ein Gendarm mit Gewehr, und nebenher und hinterdrein reiten zwei weitere bewaffnete Gendarmen. In dem Wagen selbst sitzt auf dem unteren Sitz noch ein Gendarm und auf dem oberen ein Geistlicher und neben ihm ein Unglücklicher mit wachsbleichem [080] Gesicht und starrem Blick, mit dem er stumpfsinnig, töricht und ausdruckslos zum letzten Mal in die Welt sieht. Man hat ihn aus dem Gefängnis des Militär-Standgerichts geholt, das ihn wegen Desertion von der Front zum Tode verurteilt hat. Er hat gekämpft, tapfer gekämpft, volle vier Jahre lang. Er hat bei Kumanovo und bei Bitola gekämpft, bei Jedrene und an der Bregalnica, bei Debar und Žirovnica, bei Cer und bei Ram, bei Rudnik und am Timok. Und als er sah, dass alles zerfiel, all das, wofür so viel Blut vergossen worden war; als er sah, dass sein Haus zugrunde gegangen war, sein Dorf, der ganze Staat, da wurde er schwach, da verlor er seine ganze Kraft, seine Seele war erschöpft. Es fanden sich Kameraden, die seinen Kleinmut noch anstachelten, die seinen Schmerz noch reizten, und eines Tages beging er ein schweres Verbrechen an seiner Heimat, er ließ sein Gewehr zurück und machte sich nach seinem Dorf auf.

Vor Gericht verteidigte er sich nicht, doch er antwortete ohne Hoffnung und mutlos.

„Bist du geflohen?“ fragte ihn der Vorsitzende.

„Jawohl!“ antwortete er knapp und blickte im Gerichtssaal umher, um Ausschau zu halten, ob er unter den Richtern in irgendjemandes Blick Mitgefühl entdecken werde.

„Hast du gewusst, dass Fahnenflucht mit dem Tod bestraft wird?“

„Jawohl!“

„Warum bist du denn dann geflohen?“

Er schweigt, schweigt beharrlich und blickt stumpfsinnig und stumm vor sich hin, und zwei große Tränen stehen in seinen Augen. Der stolze Soldat von Kumanovo und Cer, von der Bregalnica und von Ram hat sich diese beiden Tränen bis jetzt aufgespart, um sie eines Tages, wenn er nach langen und blutigen Kämpfen auf seine Schwelle zurückkehren würde, in der Umarmung seiner Hausfrau und seiner Kinder zu vergießen, und da vergießt er sie nun hier vor dem Eingeständnis seiner Schmach. Das ist keine Trauer um das Leben, was diese Tränen hervorgerufen hat, der Soldat von Kumanovo und Cer hat mit seinem Leben längst abgeschlossen; das ist auch nicht das Gefühl von wehmütiger Sehnsucht nach seinem Haus und seiner Familie, von denen ihn binnen kurzem ein kurzes Urteil des Standgerichts für immer trennen wird. Ihnen, seiner Familie, wird er seine letzte, die kürzeste Nacht seines Lebens widmen, die Nacht, die ihm noch verbleibt vom Urteil bis zur Vollstreckung. Das Gefühl der Schmach ist es, was die Tränen des Soldaten hervorruft, das Gefühl jener schlimmsten Scham, der vor sich selbst. [081]

Und da führt man diesen Unglücklichen an diesem Morgen nun zur Erschießung. Die Leute weichen vor dem traurigen Begräbniszug auseinander. Die Serben aus Priština wenden schmerzerfüllt den Kopf ab, um diesen Soldaten nicht sehen zu müssen, nach dem sie sich drei Jahre zuvor so begierig die Augen ausgeschaut haben, als er von Kopaonik kam und ihnen die Freiheit brachte; die Albaner, denen dieser selbe Soldat die Macht beschnitten hat, senken heuchlerisch den Blick, da sie in ihrem tiefsten Innern Befriedigung darüber empfinden, dass dem serbischen Soldat vor ihren Augen Schande bereitet wird.

Der Regen rauscht hernieder, die Wolken rollen eilig dahin, und der Zug bewegt sich gemächlich durch die Hauptstraße, schlägt die Kosovo-Straße ein und kommt oberhalb der Weinberge von Priština heraus, in der Nähe der heiligen Gräber, die drei Jahre zuvor das Kosovo erhellt haben. Dort wartet bereits eine ausgehobene Grube, dort werden die Gewehre der Gendarmen Feuer spucken und einen Körper in das Grab strecken, das sich in einer Reihe mit denen befindet, die gestern erschossen wurden, und hinter dem diejenigen kommen werden, die morgen erschossen werden.

Warum dort? Warum in Sichtweite jener, die vor fünf Jahrhunderten hier gefallen sind; warum da, wo die blutige Kosovo-Pfingstrose die Gräber schmückt; warum da, von wo aus man den Rauch an der Front von Kačanik sehen kann, wo noch immer diejenigen kämpfen, die keinen einzigen Augenblick verzagt haben und die im Glauben untergehen? Warum nicht am Fuße des schmachvollen Goleč, wo sich der Wolf versteckt hält?

Doch obgleich diesen Zug des zum Sterben Verurteilten tiefes Schweigen und die Anteilnahme der Menge begleiten, durch die er sich hindurch schiebt – als er in der Tiefe des engen Geschäftsviertels von Priština untergetaucht ist und die Gruppen, die er durchschnitten hat wie ein Boot das Wasser, sich von neuem zusammenfinden und wieder neu bilden, da beginnen sie über ihre Eindrücke von dem unerfreulichen Zwischenfall zu reden.

„Ich verstehe bloß nicht, warum man damit so eine Parade veranstaltet, und das hier, im Kosovo!“ erregt sich ein ehemaliger Volksabgeordneter, ein Mann mit klugen Augen und breiten Schultern. „Wenn er schuldig ist, soll man ihn erschießen. Man soll ihn früh noch vor Sonnenaufgang abführen, wenn noch alles schläft, und ihn erschießen!“

„Das hier ist notwendig, um ein Exempel zu statuieren“, rechtfertigt den Vorgang ein jüngerer Polizeibeamter, dessen Bezirk nicht mehr existiert. [082]

„Was für ein Exempel? Für wen denn? Für uns etwa, die Bürger? Wenn er zur Armee gehört, dann soll man ihn da hinbringen, an die Front, und dort erschießen“, ruft der ehemalige Volksabgeordnete erregt.

„Es muss einfach so sein, da gibt es nichts zu protestieren!“ ergänzt der Polizeibeamte.

„Ich protestiere nicht dagegen, dass man Deserteure überhaupt erschießt, sondern dass man sie auf diese Weise erschießt, hier …“

„Und dass man sie so leicht erschießt“, fügt ein Lehrer hinzu, der sich erst jetzt in das Gespräch einmischt.

„Wieso leicht?“ wendet sich ihm der Polizeibeamte zu.

„Unter normalen Verhältnissen ist selbst die kleinste Kleinigkeit ein mildernder Umstand, was weiß ich, Erregung, Herausforderung und ich weiß nicht was noch alles. Und hier? …“

„Das geht nicht anders, das hier ist ein Kriegsgericht!“ fühlt sich der Polizeibeamte auch weiterhin verpflichtet, die Sache zu rechtfertigen. „Du willst wohl, dass ein Soldat desertiert und dann nachher sagt: Ich war aufgeregt, und das soll dann ein mildernder Umstand für ihn sein?“

„Nicht doch, Freund!“ erhitzt sich der Lehrer. „Aber ich will, dass Kumanovo ihm als mildernder Umstand angerechnet wird, und ich will, dass Bitola ihm als mildernder Umstand angerechnet wird, und Jedrene, Bregalnica, Cer, Elbasan … Das alles, das alles muss ihm als mildernde Umstände angerechnet werden. Sieh mal, gestern haben sie einen genauso zur Hinrichtung geführt, der hatte an der linken Seite seiner Bluse ein schwarzes Bändchen, und daran hatte vorher eine Tapferkeitsmedaille gehangen.“

„Man darf da keine Unterschiede machen, Freund! Desertieren ist Desertieren, ob nun ein Held desertiert oder ein Feigling. Wenn ein Held desertiert, trägt er vielleicht sogar noch mehr Schuld, weil er mit seiner Angst die Übrigen ansteckt.“

„Das gebe ich ja zu!“ verteidigt sich der Lehrer, „aber ich bin nicht der Meinung, dass es dasselbe ist, ob man aus Feigheit oder aus anderen Motiven heraus desertiert.“

„Was für anderen Motiven?“

„Was für welchen? Vielleicht Sehnsucht nach zu Hause, vielleicht momentane Verzagtheit, vielleicht die Überzeugung, dass alles vorbei ist, dass es keine Rettung mehr gibt, dass es nichts mehr gibt, wofür ein Soldat kämpft, und dann das Bedürfnis, wenigstens das eigene Haus zu retten, die eigenen Kinder zu retten. Erkundigen Sie sich bei den Vorgesetzten, dann werden Sie sich davon überzeugen …“ [083]

„Wovon werde ich mich überzeugen?“

„Sie werden sich davon überzeugen, dass es keine Desertion gegeben hat, solange die serbische Armee in der Überzeugung gekämpft hat, wenigstens ein Stückchen Heimat bewahren zu können, und dass das Desertieren erst von dem Moment an anfing, als diese Überzeugung vollkommen zunichte geworden war. Fragen Sie, und selbst die Richter werden Ihnen sagen, dass es keine Desertion aus Feigheit gibt, und die hier, die man zur Erschießung abführt, sind keine Feiglinge. Wenn es auch Deserteure sind, aber Feiglinge sind sie nicht!“

„Deshalb würde ich sie ja auch nicht so mit einer Parade zur Hinrichtung führen lassen!“ wirft der ehemalige Volksabgeordnete ein.

„Es sind keine Feiglinge!“ wiederholt der Lehrer nochmals.

„Wenn Ihnen das ein Trost ist!“ zuckt der Polizeibeamte die Achseln.

„Das ist mir ein Trost! In diesem Unglück ist mir selbst das ein Trost!“

Solche oder ähnliche, oder auch andere Gespräche wurden auch bei den anderen Gruppen geführt, an denen der Soldat, den man zur Erschießung führte, vorbeigezogen war. Ich tauchte bei solchen Gelegenheiten für gewöhnlich irgendwo unter, um weder die kläglichen Bilder sehen zu müssen, von denen die Rede war, noch diese Unterhaltungen mitanhören zu müssen, die sie begleiteten. Ich pflegte in ein Wirtshaus zu gehen, gleich unterhalb des Bürgermeisteramts, wo von der frühen Morgendämmerung bis zur finstersten Dunkelheit stets die Tische besetzt waren und man kaum einen Platz bekommen konnte.

Aber auch hier im Wirtshaus ein Lärm, als wäre man in einen Korb aufgeschreckter Bienen gefallen. Der Tabakrauch hat sich tief auf die Tische herabgesenkt und legt sich wie eine schmutzige Wolke auf die Gesichter und Figuren der Leute; dazu der schwere Gestank nach Schnaps, Tabak, menschlichen Ausdünstungen und nach nie gelüftetem Wirtshaus, in dem sich von früh bis spät eine Masse von Leuten drängt. Da ist ein Offizier, soeben von irgendwoher eingetroffen, der sich ausruht, bevor er seinen Weg fortsetzt. Seine Stiefel sind schlammverschmiert, der Säbel schief, und die Stirn mit schmutzigem Schweiß bedeckt. Neben ihm ein Flüchtling, der schon seit Tagen hier sitzt, in diesem Wirtshaus, vielleicht an diesem selben Tisch, um vielleicht irgendetwas in Erfahrung zu bringen, und gegen Abend geht er nach Hause und weiß gar nichts. Da sind auch Einheimische, die die Leute nicht kennen, aber alle mit ihrem Blick verfolgen, um vielleicht aus den fremden Gesichtern etwas herauszulesen. Hier sitzen zweie neben einander, die sich noch nie im Leben begegnet sind und sich auch nie wieder begegnen werden. Und sie alle unterhalten sich, [084] streiten sich, jammern, schütten ihr Herz aus und erkundigen sich, ohne einander nach dem Namen zu fragen. Das Elend macht die Leute gleich und bringt sie einander näher; im Elend fallen die Rücksichten weg, man vergisst die soziale Stellung, im Elend wendet sich Mensch an Mensch. Glück ist es, was das göttliche Gesetz zerstört und den Nächsten dem Nächsten entfremdet, Unglück hingegen führt sie zusammen. Deshalb hat wohl Gott der Welt auch so wenig Glück zugeteilt, damit der Mensch seinem Nächsten und auch ihm näher bleibt.

An den Tischen wird laut geredet und geflüstert, es wird mit Überzeugung gesprochen und mit scharfen Gesten, man spricht auch ruhig und beredt. Der Lärm schwillt bald an zu wahrem Getöse, bald beruhigt er sich, dann wieder wird er zu einer Art Summen und Murmeln. Nur hin und wieder, wenn von einem Tisch lauter eine Neuigkeit zu vernehmen ist, verstummen alle Übrigen und wenden ihre Aufmerksamkeit dort hin. Es kommt vor, das ein Gespräch, das an einem Tisch begonnen hat, allmählich auf sämtliche anderen übergreift, so dass man sich von verschiedenen Tischen aus daran beteiligt und es zu einem allgemeinen Gespräch wird. Wenn es nicht so ist, sondern jeder für sich redet, überschneiden sich Worte und Sätze, so dass jenes allgemeine Gesumm und die Satzfetzen, die man aufschnappt, sinnlos erscheinen, unvernünftig und zusammenhanglos.

„Hunderttausend Soldaten, wenn ich’s dir sage!“

„Der ist 1910 pensioniert worden!“

„Aber was willst du denn da, es geht hier um Debar!“

„General Ratko Dimitrijev.“

„Besser ein Saumsattel als ein Bergsattel!“

„Zweieinalb Dinar das Kilo!“

„Der Weg ist zerstört!“

„Seine Frau ist letztes Jahr gestorben.“

„Aber was zählst du denn auf Rumänien?“

An dem Tisch, an dem ich stand, ohne einen Platz zu bekommen, sprach man über den Selbstmord des Oberstleutnants Dušan Glišić.

„Das ist der erste Selbstmord, und es werden noch mehr kommen! Ganz sicher!“

„Es gibt bereits noch mehr!“ wirft ein Anwalt vom anderen Tisch ein.

„Tatsächlich?“

„Ich komme eben aus dem Bürgermeisteramt; eine Depesche aus Kuršumlija ist eingetroffen: Milutin Uskoković, der Literat, ist in die Kosanica gesprungen und ertrunken.“ [085]

„Oh, der Arme!“ meint einer aus der Ecke.

„Gott sei seiner Seele gnädig!“ fügt ein Anderer hinzu.

„Der hat’s richtig gemacht. Er hat seine Qualen abgekürzt!“ ergänzt ein Dritter, und ein Vierter fragt:

„Ist er zufällig in den Fluss gefallen oder absichtlich?“

„Absichtlich, Selbstmord“, erwidert der Anwalt, der die Nachricht mitgeteilt hat. „Er hat einen Brief hinterlassen.“

„Der Arme, und ich habe ihn noch gestern oder vorgestern hier auf der Straße gesehen!“ wirft jemand von der Tür her ein, an die er gelehnt steht.

Das erinnerte mich daran, dass auch ich ihn vorgestern gesehen hatte.

Noch in Skopje, die letzten zwei, drei Tage vor dem Fall, waren wir zusammen auf der Bürgerversammlung gewesen, die im Bürgermeisteramt besorgt die Frage über die Art erörterte, wie die Bevölkerung evakuiert werden sollte. Er wurde als Mitglied des Komitees der Bürgergarde gewählt, die gebildet worden war, um im Moment der Auflösung soweit wie möglich die Ordnung aufrecht zu erhalten und die Evakuierung sicherzustellen. Uskoković, der auch früher schon zu düsteren Gedanken und verzweifelten Entscheidungen geneigt hatte, wie sie für die Helden seiner Romane bezeichnend sind, merkte man schon da an, wie schwer der Eindruck der Ereignisse, die wir miterlebten, auf ihm lastete. Sie hatten ihn stark niedergedrückt und die letzten Abwehrkräfte in ihm ins Wanken gebracht, und schon da drückte sein Blick eine gewisse Erschrockenheit und Verzagtheit aus. Er flüchtete mit uns nach Priština, und das Elend, der Zerfall, der Zusammenbruch, dieses schreckliche Bild, dass Priština in jenen Tagen vermittelte, konnte seine bereits umnebelte Seele nur noch mehr verdüstern. Ich hatte ihn hier getroffen, wo sich auch alle Übrigen trafen, vor dem Bürgermeisteramt, vor jener Moschee am Anfang des Geschäftsviertels. Es war ein kalter Tag, und er in einem leichten Mantel.

„Was ist das bloß, was ist das bloß?“ empfing er mich mit einem Ausruf, wobei er die Worte mit dumpfer, heiserer Stimme kaum durch die zusammengepressten Kiefer hervorbrachte, als würgte ihn ein Krampf.

„Was ist das bloß?“ wiederholte er.

„Na das, was Sie sehen!“

„Na schön, wird das jemals zu Ende sein?“ fragte er weiter, mit einer gewissen Zuversicht, dass ich ihm tatsächlich auf diese Frage antworten könne.

„Na das hier, das ist das Ende!“

„Was?“ [086]

„Was Sie hier sehen!“

„Also wirklich das Ende?“ fragte er verwundert, wandte sich nach links und nach rechts und blickte sich um.

„Aber sagt Ihnen denn nicht dieses Bild, diese Auflösung und dieses Durcheinander, diese hoffnungslosen Gesichter und verzweifelten Blicke, dieser Regen und der ständig trübe Himmel, dieser Schmutz und diese Bedürftigkeit, und dieses Schießen, das man von Kačanik und Montenegro her hört, sagt Ihnen das alles nicht, dass das hier das Ende ist?“

„Man hört also die Kanonen aus Kačanik?“ fragte er erregt.

„Ja!“

„Und von da aus, aus Kuršumlija?“ und er deutete mit dem Kopf dorthin, in Richtung der Grenzen von Rudnik.

„Von da hört man nichts.“

„Dann gehe ich da hin. Ich will Ruhe; versteht dieses Europa das endlich, ich will Ruhe!“

Und er wandte sich grußlos ab und ging irgendwo hin. Ich wusste damals nicht, ob er sich in diesem Augenblick wirklich nach Kuršumlija aufmachte. Jedenfalls ging er in seinem leichten Mantel, ohne Ausrüstung, ohne irgendetwas, die nasse Straße entlang, die bereits von Flüchtlingen aus der anderen Richtung verstopft war, die nach Priština flohen. Er brach in dem Moment nach Kuršumlija auf, als auch dort Kanonendonner zu hören war, und seine aufgewühlte Seele konnte auch da keine Ruhe finden. Nirgends, nirgends hätte er mehr Ruhe finden können, denn in jenem Augenblick gab es keinen einzigen Winkel mehr in Serbien, wohin nicht die Stimme der Kanonen drang. Die Heimat konnte einem armen Teufel, ihrem Schriftsteller, keinen ruhigen und sicheren Zufluchtsort mehr bieten. Uskoković besaß nicht mehr die moralische Kraft, der Schwere der Ereignisse standzuhalten; seine Seele war ins Wanken geraten, war aus dem Gleichgewicht gekommen, strauchelte und – unterlag.

Er schrieb einen Zettel, auf dem er der Heimat bitter vorwarf, ihn im Stich gelassen zu haben, ging ans Ufer der stürmischen und vom starken Regen Hochwasser führenden Kosanica und sprang in die trüben, schlammigen Wellen dieses kleinen Flusses, und fand im Tode endlich Frieden.

„Oh Leute, wie konnte er bloß!“ verwundert sich einer, der eben das Wirtshaus betreten und gehört hat, dass sich Uskoković ertränkt hat.

„Er hat es nicht mehr ausgehalten!“ antwortet jemand vom fünften [087] oder sechsten Tisch. „Nicht jeder kann das hier ertragen. Man braucht ein Herz aus Stein und Nerven aus Stahl, um sich nicht zu Tode zu grämen.“

„Der Velimir Rajić hat ja auch …“, wirft jemand aus dem Hintergrund ein.

„Welcher Velimir Rajić?“

„Der junge Dichter!“

„Was ist denn mit ihm?“

„Er auch?“

„Hat er sich etwa umgebracht?“

„Nein, umgebracht hat er sich nicht, aber er ist auch nicht gestorben, sondern er hat sich zu Tode gegrämt, buchstäblich zu Tode gegrämt.“

„Aber weswegen?“

„Wer weiß, wohl vor Kummer, vor Schmerz!“

Der arme Rajić! Er war ohnehin kein starker Mann, schon das eigene Leben hatte er kaum ertragen, und da musste er nun diesen Zusammenbruch erleben, das legte sich ihm allzu schwer auf die Seele. Er beklagte sich nicht, er klagte und jammerte nicht, er stieß nur bei jedem Ungemach, das unsere Heimat ereilte, einen Seufzer aus. Und Unglück reihte sich an Unglück, Zusammenbruch an Zusammenbruch und Wehlaut an Wehlaut – und da war es irgendwann zuviel für ihn gewesen. Schmerz wird es gewesen sein, sein ganzes Leben war ein einziger großer Schmerz, er war ein Dichter des Schmerzes, und da war er nun als ein Opfer des Schmerzes gestorben!

Während ich in der Ecke, ohne das Gespräch, das auf das ganze Wirtshaus übergegriffen hatte, weiter zu verfolgen, über Glišić, Uskoković und Rajić nachdachte, trat ein angegrauter Mann auf mich zu und unterbrach meine Gedankengänge.

„Um Gottes willen, mein Herr, da am Zaun hinter dem Bürgermeisteramt stirbt ein Schauspieler.“

„Ein Schauspieler?“ fragte ich überrascht.

„Er sagt, er sei Schauspieler.“

Ich ging sogleich dorthin, wo er es mir gesagt hatte, und hörte, wie hinter mir im Wirtshaus jemand ein neues Gespräch anfing:

„Jetzt fangen sie also schon an, an Zäunen zu sterben  …“

(...)

 

[181]

17

Vierzigtausend Märtyrer

 

Seit dem Morgen war die Straße, die von Štimlje nach Prizren führte, völlig verstopft. Die Straße war nicht einmal mehr zu sehen, sondern nur eine schwarze, lebendige Linie, die sich durch die Ebene zog und sich bewegte, schlängelte, kroch, wie Ameisen aus einem Ameisenhaufen mit ihren Körpern den Weg bezeichnen, auf dem sie sich zur Arbeit aufmachen.

Alles zog dort seines Weges, was in der Nacht in Štimlje ausgeruht hatte; auch alles, was erst an diesem Morgen aus Lipljan eingetroffen war, brach auf und wagte nicht, sich für eine Ruhepause länger aufzuhalten; auch alles, was unentwegt von der Front kam, wo es nicht länger von Nutzen sein konnte, setzte seinen Weg fort.

Nun hörte man bereits deutlich den Kanonendonner, denn die Kämpfe wurden irgendwo in der Nähe geführt, und die Menge ging schweigend dahin, mit gesenkten Köpfen, wie eine Reihe Angeklagter, denen bereits das Urteil verkündet worden ist.

Der Himmel zeigte gänzlich eine traurige Farbe und beleuchtete das rauhe Bild eines ganzen Volkes auf der Flucht ins Gebirge mit einer Art mystischem Nebel, der, wie aus verbrannten Sonnenstrahlen gewebt, Elend und Ungemach geheimnisvoll verschleierte. Ich entsinne mich eines Bildhauers, der die Trauer in einen solchen durchsichtigen Schleier gehüllt hat, unter dem man die Tränen nicht sehen konnte, aber spürte.

Unmöglich war es, mit dem Auge die ganze Größe des Elends zu erfassen, das sich seit dem Morgen vorwärts bewegte. Jeder sah nur das nächste Bild um sich selbst, und das, was vor ihm und was hinter ihm war, entzog sich seinem Blick. Erst als die Sonne ein wenig höher stand, bevor wir aus der Kosovo-Ebene in den tiefen Engpass der Crno­ljever Schlucht vordrangen, setzte ich mich auf einen umgestürzten Baum, um eine erste Pause einzulegen, und da zog an meinen Augen Bild für Bild vorbei, von denen jedes für sich eine Einheit von Elend und Ungemach darstellte, und alle zusammen, miteinander verbunden, die ganze Tragödie eines Volkes.

Eine Batterie zog vorüber und zog mühsam die schwerfälligen Räder aus dem dicken Schlamm, der die Straße voller Schlaglöcher und Pfützen bedeckte. Voran ritt der Kommandeur mit sonnengebräuntem, müdem Gesicht, in dem sich alle Anstrengungen der lang andauernden und übermenschlichen Kämpfe und sämtliche Enttäuschungen eines ehrlichen [182] Ältesten, der außer mit Tapferkeit stets auch voll Glauben und Vertrauen in die Schlacht gegangen war, als tiefe Furchen eingegraben hatten. Die Kappe weit über die Stirn gezogen und gesenkten Kopfes, ging er in Gedanken all die ruhmreichen Schlachten von 1912, 1913, 1914 und 1915 durch, die diese Batterie, von der er sich wohl noch nie getrennt, geführt hatte. Und nun, auf dem Rückzug, wurde seine Seele von einem Gefühl der Scham ergriffen, das ihn quälte und ihn dazu bewog, nicht den Kopf zu heben und es zu vermeiden, dem Blick der Flüchtlinge zu begegnen, die in dichten Reihen vorbeizogen. Die Pferde in dem schlammbedeckten Geschirr, müde und erschöpft, kamen kaum vorwärts; die meisten Sättel auf ihnen waren leer; diejenigen, die sie geritten hatten, waren dort geblieben, auf dem Schlachtfeld. Wenn ein Rad an einen Stein schlug, dann ertönte ein sanftes Klingen, so wie leere Glocken klingen. Die Batterie hatte keine Munition mehr, sie hatte alles verschossen, hatte sich verausgabt – und nun zog sie sich zurück, damit wenigstens die Kanonen gerettet würden, dass sie nicht dem Feind in die Hände fielen.

Gleich hinter der Batterie kommen Einspänner voller Sachen und kleiner Kinder. Die anmutigen Kinderköpfchen spähen eingehüllt in Kopftücher hervor, in Schals und in Decken, doch die Mutter, die noch einen Säugling auf dem Arm trägt, begleitet den Wagen mit der kostbarsten Last. Das Pferdchen lahmt auf einem Bein, es zieht den Wagen aus dem Schlamm mit hanfgeflicktem und mit einem Seil verlängerten Geschirr. Es wird von einem alten Mann geführt, der sich selbst mit einem Stock behilft, um nicht zu straucheln. Sein Sohn steht im Feld; vielleicht ist das, was man seit dem frühen Morgen hört, auch sein Gewehr, und er ahnt nicht einmal, dass so nahe hinter der Front seine Familie vorbeizieht, seine Kinder und all sein Hab und Gut. Der Großvater, dem das Haus und die Sorge geblieben waren, hatte den verrotteten Einspänner, der unter dem Vordach des Hauses verfiel, repariert und das Zaumzeug, das im Haus hinter der Tür hing, mit einem Seil und mit Hanf geflickt; die Mutter hatte einen vollen Sack Maismehl für Proja [Brot] angesetzt, und so hatten sie mit aller Welt die Flucht ergriffen und bewegten sich ein paar Stunden täglich vorwärts, soviel, wie der Großvater gehen konnte, soviel, wie das Pferdchen zu ziehen vermochte. Sie waren hinter den Leuten hergegangen, hinter dem Volk, ohne zu fragen, wohin sie jetzt gingen, ohne zu wissen, wohin, und nicht ahnend, dass sie sich binnen Kurzem in den albanischen Bergen wiederfinden würden, wo der Einspänner überflüssig sein und das arme Pferdchen schwerlich eine so große Sorge auf sich würde nehmen können. [183]

Hinter dem Einspänner kommt ein Ochsenwagen, wiederum überladen mit Sachen, Frauen und Kindern. Die armen Ochsen keuchen schwer und straucheln, ohne den Wagen herausziehen zu können, der alle Augenblicke in Schlaglöchern feststeckt, und zwei, drei junge Frauen, die neben dem Wagen hergehen, stemmen sich fortwährend mit ihren Schultern dagegen und ziehen den Wagen mit ihrer jungen Kraft heraus.

Danach kommen zu Fuß die Überreste einer englischen Artillerieabteilung, die sich aus Belgrad zurückzieht. Diese Ausländer, die bis vor wenigen Tagen die serbische Hauptstadt verteidigt haben, ziehen jetzt in die serbischen Berge, um mit uns das Schicksal eines unglücklichen Volkes zu teilen. Sie sind von drüben, von ihren fernen nördlichen Inseln über weite Meere gekomen, um uns weniger Hilfe als den Glauben daran zu bringen, dass wir in diesem gigantischen Kampf nicht allein dastehen, dass die Hand der Mächtigen bis zu uns durchzudringen vermag, dass über uns die Obhut der Mächtigen wacht. Doch wie schwach ist auch dieser Glaube angesichts der Gewalt!

Hinter den Engländern ächzt und stöhnt ein ganz mit Schlamm verschmiertes Automobil, voller Menschen, die sich in ihm zusammendrängen. Es fährt mit derselben Geschwindigkeit wie der Ochsenkarren und bleibt genauso häufig stehen, da es ein Rad nicht frei bekommen kann, das in einer der schlammigen Pfützen feststeckt, die sich in den Schlaglöchern gebildet haben, und sich hilflos um die eigene Achse dreht. Die Leute, mit denen das Automobil beladen ist, steigen bald aus, um es herauszuziehen, bald klettern sie darauf, damit es sie selbst herauszieht.

Hinter dem Automobil knirscht bedächtig ein schwerfälliger Ochsenwagen mit staatlichen Ochsen dahin, der mit irgendwelchen Truhen, mit eisernen Betten und mit Schachteln voller Instrumente beladen ist, und auf all diesen Sachen sitzen barmherzige Schwestern, in Militärmäntel gehüllt, mit schmutzigen Tüchern auf dem Kopf und dem roten Kreuz über der Stirn. Das sind die Überreste einer russischen Mission, und der Doktor, der Chef der Mission, in behäbigen, bis übers Knie mit Schmutz verklebten Männerstiefeln, die Kappe in den Nacken geworfen und die Brille auf die Nasenspitze gerutscht, geht voran und führt die Ochsen am Zügel.

Und dann reiht sich genauso weiter Bild an Bild. Eine ganze endlose Reihe von Militärwagen mit einer Aufschrift an der Seite, welchem Kommando sie zugehören, hier und da von Bauernwagen unterbrochen, Ein- oder Zweispännern, die sich unbefugt in die Schlange eingereiht [184] haben. Diese Militärwagen stellen versprengte Teile einzelner Kommandos dar, miteinander vermischt, ungeordnet, auseinander gerissen, so dass man deutlich sieht, wie jeder für sich und auf eigene Rechnung seinen Wagen zieht. Ein Sanitätswagen der Vardar-Division, dann drei Munitionswagen der Morava-Division, dann zwei Wagen aus dem Feldfuhrwesen der Drina-Division, dann eine Feldküche der Donau-Division, und so immer weiter der Reihe nach und ohne erkennbare Ordnung. Auf diesen Wagen gibt es sowohl staatliche als auch private Dinge, sowohl staatliche als auch Privatpersonen, es gibt kranke Soldaten und ganze Familien, Frauen, Kinder und Alte.

 

— —— — — — — — — — — — — — — — — — — — —

 

Langsam ging die Flucht über die dicht verstopfte Straße vonstatten. Eine unglückliche Mutter, die auf dem Rücken ihre teure Last trägt, ihr Kind, sie selbst ausgemergelt, wachsbleich im Gesicht; ein Verwundeter, der, ohne seine Genesung abzuwarten, aus dem Bett aufgestanden und in seine Krankendecke gehüllt aufgebrochen ist; dann ein Vater, der einen ganzen Haushalt auf dem Rücken trägt, und eine Mutter, die die müden Kleinen an der Hand führt; ein verfrorener, abgerissener, ausgehungerter Gefangener, der wie ein Wahnsinniger um sich blickt, während er der Menge folgt; dann russische Seeleute und französische Sanitäter, verirrte Kinder ohne Eltern, ohne warme Kleidung, ohne Schutz – all diese Bilder, und andere, noch leidvollere, ziehen durch die Menge der Ochsen- und Pferdewagen, neben Wagen aller Art her, aller möglichen Formen, durch die Reihe der Automobile, der Munitionswagen, der Kanonenkarren und der Lastpferde. Und all das war mit einander vermischt, Wagen und Menschen und Vieh, und all das drängte sich gegeneinander, alles griff um sich, obwohl man kaum vorwärts kam und sich nur mit Mühe durch die Menge schieben konnte, und jeder hatte außer jenem allgemeinen auch noch sein eigenes, persönliches Elend zu tragen, jeder seinen eigenen Schmerz, seine eigene Geschichte, eine immer hässliche Geschichte. Die Einen waren in die Welt gezogen und hatten ihr Haus und ihre Habe auf Gnade und Ungnade dem Plündern überlassen, das nun in ihrer Heimat wütete; Andere waren aufgebrochen, und ihre liebsten Angehörigen waren auf dem Schlachtfeld, und wer mochte wissen, ob sie noch am Leben waren, und wer mochte wissen, ob sie sie noch einmal wiedersehen und jemals wieder von ihnen hören würden; wieder Andere waren mit der bitteren Erkenntnis losgezogen, [185] dass sie die Gräber ihrer Lieben zurückließen, nach denen niemand sehen, die keiner gießen und beweihräuchern würde; noch Andere waren aufgebrochen und hatten schwache Angehörige, Kinder oder Alte, unterwegs an unbekannten Orten zurückgelassen, bei unbekannten Menschen; wieder, und wieder, und wieder Andere, jeder trug sein Elend, jeder seinen Schmerz, seine Geschichte, seine immer traurige Geschichte.

Hintereinander her gingen Eltern ohne Kinder und Kinder ohne Eltern, verzweifelt und ohne Trost, Kranke ohne Pflege, Hungernde ohne eine Aufforderung zum Essen, Ausgemergelte ohne Rast. Unsicher und aufgeregt, mit der Empfindung von Angst, Erniedrigung und Leid, bewegte sich der Zug des Elends und des Jammers voran und strömte die Straße dahin wie ein angeschwollener Schmerzensfluss.

(...)

 

[260]

33

Letztes Röcheln

 

Nach Peć floh man nicht wie an einen Zufluchtsort, wo man sich verbergen und der einem Schutz bieten konnte; durch Peć zog man lediglich hindurch und hielt sich kurz auf, bevor man in die unzugänglichen Berge aufbrach. Deshalb wurde das, was noch nicht in Prizren vernichtet worden war, hier den Flammen übergeben. Von Prizren nach Peć gab es noch eine Straße, und obgleich jeder seine Habe noch in Prizren verstreut hatte, versuchte der Staat, versuchte die Armee noch immer, wenigstens das Allernotwendigste, das Allerwichtigste, das um jeden Preis gerettet werden musste, mitzuführen. Doch hinter Peć erhob sich bereits eine hohe und unzugängliche Gebirgswand, wo man mit Wagen nicht weiter kam, wo auch Pferde strauchelten und im Geschirr zusammenbrachen, wo es auf den schmalen, abschüssigen Pfaden selbst zu Fuß nur schwer voran ging, so dass man sich angesichts dieser Aussichten auch von den letzten Resten des Geretteten trennen musste. Das große Feuer, das in der Nacht über Prizren loderte, hatte die Staatsarchive verschlungen, Geldbücher, Gerichtsdokumente und dann Wagen, Automobile, Kanonenkarren, Munition, Krankenbetten, Feldapotheken und Sanitätsmaterial, Zelte, Werkzeug, alles, alles, alles, was man nicht mitführen konnte, war von den gierigen nächtlichen Flammen geschluckt und verschlungen worden.

(...)

Es ist vollbracht, es ist alles vollbracht! ...

Die Verbündeten wuschen ihre Hände in Unschuld, der Feind brüllte: „Kreuzige ihn!” Das Kreuz war bereits aufgepflanzt, und Golgatha lag vor uns. Wir brachen auf und zogen dort hinauf!

Wir ziehen in die Berge, alle brechen wir auf: der König, die Regierung, die Vojvoden, die Generäle, die Armee und das Volk. Wie ziehen in die Berge, in felsige Schluchten; wir gehen Hunger und Tod entgegen!

Wir werden schneebedeckte, dem Auge noch verborgene Gipfel erklimmen und in finstere, eisige Schluchten hinabsteigen, wo wir, wie die ersten Christen, wenn sie in die Arena geworfen wurden, darauf [280] warten werden, dass wilde Tiere uns zerreißen. Wir werden unsere Namenstage in Höhlen feiern, das Totengedenken für unsere Nächsten und Liebsten auf Klippen abhalten; wir werden in Schnee und Matsch schlafen; einschläfern wird uns das Heulen der Wölfe und wecken das Gewehr des Albaners. Wir werden hungern und vor Hunger zugrunde gehen; wir werden erkranken, und die Krankheit wird uns dahinraffen. Schneewehen werden uns überschütten und unter sich begraben; wir werden in Schluchten und Abgründe stürzen; wilde Albaner werden uns die Kehle durchschneiden und uns erschlagen; über unseren Köpfen wird es den Tod aus Wolken fliegender Geschosse regnen, und wir werden in tiefen, sumpfigen Seen ertrinken. Weh uns, überall, wo wir vorüber kommen, werden wir unbeweinte Gräber säen, an Berghängen und in Schluchten, wo die wilden Tiere unsere Knochen abnagen werden. Und wenn wir dort hingelangen, wohin wir heute früh aufgebrochen sind, dann werden wir an öden Stränden der Adria sterben, wo wir weiße Nächte und schwarze Tage verbringen werden, sehnsüchtig Ausschau haltend, dass uns Europa Brosamen zuwirft oder dass am grünen Horizont Schiffe mit Flaggen auftauchen, die denen Rettung bringen, die von einem ganzen Volk noch übrig sind.

Ein Märchen, ein Märchen, ein Märchen, das wir – wenn wir diese [281] schweren Tage überleben – unseren Enkeln erzählen werden, so wie uns unsere Großväter davon erzählt haben, wie sie einstmals fliehen mussten!

Und sogar dann, wenn wir uns gerettet wähnen, werden unsere Leiden, unsere Schmerzen noch kein Ende haben. Wir werden die weiten Meere mit unseren Leibern füttern; als Heimatlose werden wir durch die weite Welt irren und Gräber in der Fremde säen, an unbekannten Orten, in unbekannten Ländern; wir werden uns verlieren, so dass Mütter ihren Kindern nachweinen werden und Kinder ihren Ernährern; wir werden umherirren, von einem Ungemach ins nächste geraten, und an fremde Türen klopfen; wir werden uns unter fremden Dächern verbergen und die Hände nach Brot ausstrecken, das Mildtätigkeit uns zuteilt. Die mit der Feder stark sind, werden unsere Leiden in der Dichtung besingen; die im Herzen stark sind, werden unser Elend beweinen, und die seelisch stark sind, werden uns warme Worte des Trostes bieten – aber uns wird das nicht trösten, es wird uns nicht trösten. Mit bitteren Tränen werden wir die Tage der Verbannung zählen und mit tiefem Schmerz die Sehnsucht nach der Heimat nähren.

Ein Märchen, ein Märchen, ein Märchen, das wir – wenn wir diese schweren Tage überleben – unseren Enkeln erzählen werden, so wie uns unsere Großväter von ihren einstigen Leiden erzählt haben!

Und während wir die schweren Tage der Verbannung durchleben werden, dort in der Ferne, jenseits von Meeren und Wäldern, wird jenes teure, jenes blutige Stückchen Erde, von wo wir aufgebrochen sind, das uns aufgezogen und ernährt hat, von drei bösen Herrschern versklavt werden; in Sklaverei leben werden unsere Väter und unsere Kinder, unsere Mütter und unsere Schwestern; in Sklaverei werden unsere Kirchen geraten, in Sklaverei unsere Schulen und in Sklaverei die Gräber unserer Liebsten und Nächsten. Die Straßen werden veröden, und die Wälder werden sich beleben durch Flüchtlinge und Räuber; die Feuer an den Herdstellen werden erlöschen und die Ikonenlichter in unseren Kirchen; die Gräber unserer gefallenen Söhne werden sich nach den mütterlichen Tränen sehnen; die Schwellen unserer Häuser werden von Unkraut überwuchert; verrosten werden die verlassenen Pflüge, rissig werden wird die ungepflügte und unbewässerte Erde, so dass die ohne Mann zurückgebliebenen Mütter sie mit ihren Tränen begießen werden. Versiegen werden die Brüste der Mütter, und sie werden leere Wiegen schaukeln und das Wiegenlied durch Verwünschungen ersetzen. Der Galgen wird das Gesetz ablösen; Gewalt wird Recht sprechen; das Laster wird man Tugend nennen, und die Schande wird den Kopf hoch tragen und Pfade gehen, auf denen einst Zucht und Bescheidenheit wandelten. Die letzte Zeit wird anbrechen, und da werden die Sterbenden Gottes Barmherzigkeit preisen und die Überlebenden die Toten beneiden.

Ein Märchen, ein Märchen, ein Märchen, das wir – wenn wir diese schweren Tage überleben – unseren Enkeln erzählen werden, so wie uns unsere Großväter von ihrer einstigen Sklaverei erzählt haben!

 

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

 

Mein Buch endet in Peć, denn hier endet auch die Tragödie des Volkes. Von da an beginnen die Tragödien der Einzelnen, von denen jede ein ebenso umfangreiches Buch verdient hätte.

Ich betrachte dieses Buch nicht als abgeschlossenes Werk über jenes große Ereignis, so dass ich sogar fürchte, dass der Titel, den ich ihm gegeben habe, ein wenig prätentiös ausgefallen ist. An dem vollständigen Werk, das zweifellos eines Tages erscheinen wird, sei es als historische Arbeit oder als Erzählung oder Epos, werden die Zeit und viele Hände [282] arbeiten müssen, und ich, der hier nur einen Teil des Materials bietet, kann zufrieden sein, wenn ich mich irgendwann für einen Mitstreiter bei diesem großen Werk halten kann, das all jene übermenschlichen Anstrengungen und all die großen Leiden des serbischen Volkes darlegt.

 

Der Autor

Belgrad

im März 1920

 

 

* * *

 


[286] Erläuterungen zum Namen- und Ortsverzeichnis (von Bernd E. Scholz)

 

„Die Welt ist alles, was der Fall ist.” Diesen berühmten Satz Ludwig Wittgensteins von 1918 könnte man in Bezug auf die Geschichtsschreibung zum 1. Weltkrieg auch abwandeln in „Die Welt ist alles, was der ‘feststellbare’ Fall ist.” Doch was gilt schon als ‘feststellbar’? Bei Branislav Nušićs Erinnerungswerk „Neunzehnhundertfünfzehn”, das zum großen Teil die Wiedergabe der Kriegerlebnisse von Zivilpersonen in deren eigener Sprache darstellt, bilden die ‘harten’ Fakten wie Personen- und Orts- und Straßennamen nur die Folie, den Hintergrund, vor dem sich die Einzelschicksale vollziehen. Der zeitgenössische wie der nachgeborene Leser setzt ebenso wie der Verleger, der Übersetzer, der historisch vorgebildete Forscher voraus, dass dieser Hintergrund vom Autor nicht ‘fiktional’ umgedeutet, sondern schlicht und einfach richtig wiedergegeben wird. Der Rhein fließt nun einmal von Süd nach Nord, die Donau mündet ins Schwarze Meer oder die Schlacht bei Verdun fand bei Verdun statt. Nur die Genres der Phantastik dürfen hier anders und nach eigener Logik verfahren. Wir können nach der Zusammenstellung des Namen- und Ortsregisters sagen, dass das Erinnerungsvermögen des Autors Branislav Nušić von einer bewunderungswürdigen Genauigkeit ist.

(...)

 

Literaturhinweise:

Kurz vor Drucklegung erreichte uns die von Gordana Ilić Marković 2014 in Wien herausgegebene Anthologie: Veliki Rat – Der Große Krieg. Der Erste Weltkrieg im Spiegel der serbischen Literatur und Presse. Wien: „Promedia Verlag”, 2014, 272 Seiten [zu Nušić vgl. S. 19 f.].

Aus Branislav Nušićs „Neunzehnhundertfünfzehn” findet sich hierin eine Übersetzung von Kapitel 18 „Der Roman eines Mädchens”, S. 117-130.

Mit großem Interesse nimmt der bibliophile Bibliograph wahr, dass die Herausgeberin eine bis dahin so gut wie unbekannte serbische Ausgabe des gesamten Textes ausfindig machen konnte, die 1921 als „Edition des Autors“ in Wien gedruckt wurde: „Copyright 1921 by Mozarthaus, Wien, Imprimerie ‘Edition Slave’, Wien, I., Himmelpfortgasse 13.” Dies ist um so erstaunlicher, als nicht nur das Drucken mit kyrillischen Lettern im 1. Weltkrieg in Österreich-Ungarn verboten war, sondern auch die kyrillischen Satzinventare der Zerstörung unterlagen. Für die Überlassung der Kopien einiger Seiten dieses Buches und entsprechende Hinweise danken wir daher Frau Gordana Ilić Marković. Nach ihren Angaben befinden sich Exemplare dieses Drucks nur noch in einigen wenigen Bibliotheken. Auch uns ist kein weiterer bibliographischer Nachweis gelungen.

In „Veliki Rat – Der große Krieg” befindet sich auch ein handgezeichnetes Porträt von Nušićs Sohn „[Strahinja] Ban Nušić” [S. 19], der am 30. September 1915 den Tod fand und dem auch das Buch vom Vater gewidmet wurde. —

Das Jahr 2014  hat eine unübersehbare Fülle vor allem historischer Arbeiten zum 1. Weltkrieg hervorgebracht. Was dazu für diese Ausgabe herangezogen wurde, findet sich jeweils nachgewiesen unter den einzelnen Einträgen im erläuternden „Namen- und Ortsverzeichnis”. 


[291]

Namen- und Ortsverzeichnis

 

Ada Ciganlija (Bekannte Flussinsel in Belgrad) 37, 222

Adria  188, 240, 244, 280

Ägäisches Meer  244

Ägypten  25

Albaner (Die „albanische Frage” wird bei Nušić nicht weiter thematisiert. In dem engen Zeitausschnitt – ab Mitte Oktober bis Ende November 1915, den er mit der Flucht der serbischen Zivilbevölkerung in die albanischen ‘Berge’ von Peć, bzw. Prizren aus schildert, ist es vor allem der „wilde Albaner”, auf dessen Hilfe die serbischen Flüchtlinge kaum zu hoffen wagen.)  81, 160, 200, 238, 246, 250, 253, 254, 262-264, 268, 269, 280

Albanija (Gasthaus in Belgrad)  229

(...)

Bailloud, Maurice Camille (1847-1921; französischer General;  ab Juli 1915 Chef des  „Corps Expeditionnaire d'Orient” in Gallipoli, wo eine Pattsituation enstanden war.  Nachdem Frankreich nach endgültigem Eintritt Bulgariens in den Krieg auf Seiten der Mittelmächte am 14. Oktober 1915 darauf verzichtete, seine Truppen um weitere vier Corps Divisionen zu verstärken, wurde eine Corps Division Ende September an die Mazedonisch-Serbische Front nach Thessaloniki geschickt. Das Corps, das die mediterranen Aktivitäten der Franzosen von Thessaloniki aus refokussieren sollte, wurde umbenannt in  „Corps Expeditionnaire des Dardanelles”. Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/Maurice_Bailloud, access 24.09.2015)  28, 38-40

Bajir (300 m hoher Berg bei Skopje)  211

[292]

Balkan (Zu Begriff und Geschichte vgl. http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/Balkan-Wo-er-liegt-und-was-er-ist/20060409; [einen Standpunkt kritischer Beobachtung aktueller ‘Balkanfragen’ etwa der vergangenen 25 Jahre vermitteln die Beiträge auf der Webseite  http://principiis-obsta.blogspot.de/search/label/Balkan/], access 24.09.2015)  21, 30-34, 42, 43, 244

Balkankrieg (Hier ist vor allem der Erste Balkankrieg gemeint, der alle Antagonismen dieser Region zu einer bis heute nachwirkenden Explosion brachte. ‘Die Balkankriege’ waren zwei Kriege der Staaten der Balkanhalbinsel in den Jahren 1912 und 1913 im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Der Erste begannt am 8. Oktober 1912 und endete am 30. Mai 1913 mit dem Londoner Vertrag. Als Folge wurde das Osmanische Reich in Europa bis in die heutigen Grenzen der Türkei verdrängt und musste große Gebiete an die Nachbarländer abtreten. [Siehe hier auch Bukarester Friedensvertrag.] Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Balkankriege, access 24.09.2015; Balkan wars. Photo-Record by Samson Chernov. (Hrsg.) Miroslav Perišić u.a. Belgrade 2010, Einleitung in Serbisch, Russisch und Englisch)  46, 130

(...)

 

Bojko (Die sehr traurige Geschichte eines einfachen Soldaten steht bei Nušić stellvertretend für die zahlreichen von österreichisch-ungarischer Seite begangenen Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Die Quellenlage dazu ist oft schwer einzuschätzen. Die kroatische Wikipedia zum Thema „Serbien im 1. Weltkrieg” ist um diesen Punkt völlig gekürzt. Meist finden sich im Bildmaterial von Wikimedia mehr oder weniger versteckt Zeugnisse zu diesen Verbrechen. Quelle: https://sr.wikipedia.org/wiki/Србија_у_Првом_светском_рату - /media/File:Austrian_soldiers_executing_Serbs,_1917.jpg

„Alle Einfälle der österreichisch-ungarischen Kräfte nach Serbien waren begleitet von grausamem Verhalten gegenüber Zivilpersonen, obwohl in den eingenommenen Gebieten nur Schwache zurück geblieben waren und diese in verhältnismäßig kleiner Zahl, denn die Bevölkerung war in Massen zusammen mit ihrer Armee, die sich zurück zog, geflüchtet. Dieses Phänomen war die Fortsetzung der antiserbischen Hysterie, die gleich nach dem Attentat von Sarajevo mit massenhaften antiserbischen Demonstrationen begonnen hatte. Dennoch ist zu erwähnen,  [...] dass Österreich-Ungarn sich tatsächlich nicht auf die Treue seiner jugoslawischen Untertanen – besonders der Serben – verlassen konnte.” Quelle:  https://sr.wikipedia.org/wiki/Злочини_аустроугарске_и_бугарске_војске_у_Србији_(1914—1918); http://ww1.habsburger.net/de/kapitel/die-kriegsverbrechen-der-k-u-k-armee-zwischen-soldateska-und-standgericht, access 24.09.2015)  171-173, 175-180

Boppe, Auguste (1862-1921; Bevollmächtigter Minister an der französischen Botschaft bis Herbst 1915 in Belgrad, dann in Niš und 1916 auf Korfu. Quellen: https://fr.wikipedia.org/wiki/Auguste_Boppe; Sonderheft der französischen Zeitschrift „Serbica”, vom Juli 2014, Nr. 8-9: „LA SERBIE DANS LA GRANDE GUERRE 1914-1918, das auch einen Auszug aus dem Artikel „À la suite du gouvernement Serbe de Nich à Corfou” aus dem „Journal des Deux Mondes”, Dez. 1916, Jan. 1917, enthält. Quellen: http://serbica.u-bordeaux3.fr/index.php/revues/158-archives/archives/754-boppe-auguste-a-la-suite-du-gouvernement-serbe-de-nich-a-corfou-1917 - sthash.s0NVTn8b.dpuf http://serbica.u-bordeaux3.fr/index.php/revues/806-serbica-nouveau-numero - sthash.zQAXnfLL.x9qArOVF.dpuf, access 05.11.2015)  26

Bosnier  270

(...)

 

Österreich (Nach Österreich-Ungarns fehlgeschlagenen Versuchen, Serbien 1914/15 niederzuschlagen, folgte im September 1915 der so genannte „Zweite Serbische Feldzug”.

Am 6. September schloss Bulgarien mit den Mittelmächten eine Militärkonvention und trat in den Krieg ein. Hauptgrund für Bulgarien war der Versuch, die 1913 im Zweiten Balkankrieg verlorenen mazedonischen Gebiete zurückzugewinnen, während sich Deutschland und Österreich-Ungarn davon eine Landverbindung zum Osmanischen Reich versprachen. Auch war es damit nun möglich, Serbien von drei Seiten her anzugreifen. Am 5. Oktober begann der Angriff, und am 7. Oktober landeten österreichisch-ungarische Truppen am Nordrand von Belgrad. Zwei Tage später, nach erbitterten Straßenkämpfen, fiel die Stadt. Ein versuchtes Eingreifen der bei Saloniki stehenden britischen und französischen Truppen konnte von den bulgarischen Streitkräften abgeriegelt werden [siehe hier Ovče Polje]. Den Überresten der serbischen Armee blieb nur die Flucht an die albanische Adriaküste, wo sie von Schiffen der Entente aufgenommen und nach Korfu gebracht wurden. – Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Österreich-Ungarns_Heer_im_Ersten_Weltkrieg, access 24.09.2015.

Was die Habsburger Doppelmonarchie nach diesem Sieg der Mittelmächte Serbien an  ‘zivilisationsfördernden Maßnahmen’ verordnete, liest sich beim Belgrader Historiker Milan Ristić in der renommierten Online-Ausgabe der „International Encyclopedia of the First World War” wie folgt [hier nur der Teil, der sich auf das damalige Serbien von 1915 bezieht]. Es wird deutlich, weshalb die Bevölkerung die schier hoffnungslose Flucht und Vertreibung im eigenen Land, die ja Nušićs eigentliches Thema ist,  einem passiven Hinnehmen dieser „Maßnahmen” vorzog, ja, um jeden Preis vorziehen musste.

Die Österreichisch-Ungarische Militäradministration in Serbien.

Gerichtswesen, Polizei, Erziehung und Steuerwesen waren komplett in der Hand der okkupierenden Administration. Distriktkommandeure schrieben den Zivilverwaltungen in den Städten und Dörfern, die in der Regel von aus der örtlichen Bevölkerung stammenden ‘Älteren’ geleitet wurden,  vor, was zu tun sei.  Ein drakonisches System von Strafen beinhaltete Geldstrafen, Kollektivhaftung, Körperstrafen, Zwangsarbeit, Haft und Internierung. Die Todesstrafe – üblicherweise durch Erhängen – wurde zahlreich angewendet in der Zeit nach der Invasion Ende 1915 und erreichte ihren Höhepunkt nach Rumäniens Eintritt in den Krieg 1916. Die ökonomische Ausbeutung beinhaltete eine breite Palette von Maßnahmen: Abwertung des serbischen Dinars, Kontrolle der Fabriken, Werkstätten und Mühlen, Konfiszierung von Wertgegenständen und Geld bei Privatpersonen. Das Militärgeneralgouvernement (MGG) betrieb massenhafte Entwaldung, Exploitierung von Minen, Requirierung von

[314]

Häusern, Nahrung, Kleidung, Werkzeugen und lebendem Inventar; es konfiszierte Nichteisenmetalle (von Kirchenglocken, Skulpturen und Metallgeschirren), und requirierte die Agrarproduktion. Die Bevölkerung wurde an den Rand des Verhungerns gebracht, was zum Ausbruch von Krankheiten führte, mit dem Ergebnis einer hohen Sterblichkeitsrate – vor allem unter Kindern und Älteren. Die Maßnahmen der MGG-Administration zur Verbesserung der Lage waren unzureichend.

Die Okkupationsautoritäten schafften alle Institutionen nationaler serbischer Administration ebenso ab wie kulturelle Einrichtungen und Vereine. Die Belgrader Universität wurde während der Okkupation geschlossen. Der Gebrauch des kyrillischen Alphabets wurde offiziell verboten und durch das lateinische ersetzt. Kunst und Kulturgegenstände aus Museen, Bibliotheken, Kirchentresoren und Archiven wurden konfisziert. Die MGG-Autoritäten entfernten Bücher ‘zweifelhaften Inhalts’ aus den öffentlichen wie privaten Bibliotheken; die Schulcurricula wurden gleichermaßen von jeglichem serbischen Inhalt gereinigt.  Für die ‘Umerziehung’ der serbischen Kinder wurden unter Salis-Seewis [Militärgouverneur in Serbien ab dem 7.  Januar 1916] Lehrer fast ausschließlich aus dem Bestand ausgedienter, nichtqualifizierter österreichisch-ungarischer Offiziere rekrutiert; später wurden die Schulleitungen von der Monarchie gestellt – bei größerer Beteiligung lokaler Lehrer. Ihre Aufgabe war es, der Bevölkerung, der serbischen Jugend und den Kindern ‘Loyalität gegenüber dem Monarchen’  und seiner Politik einzuträufeln. Diese Ziele wurden mit dem Allgemeinplatz gerechtfertigt, die österreichisch-ungarische Politik in Serbien und Montenegro sei eine ‘zivilisierende Mission’. Ein Aspekt dieser ‘Mission’ war die Einrichtung improvisierter Internierungslager im östereichischen Braunau mit an die 800 serbischen Studenten und eines im ungarischen Neszider mit 75 Studenten. Die Okkupationsautoritäten hatten wenig Zutrauen zu den wenigen ‘austrophilen’ Kollaborateuren, und so blieb deren Rolle marginal.

Die österreichisch-ungarischen Militärkreise waren besessen von dem Gedanken, es könnten sich Guerilla-Aktionen (‘Comitagjis’) in Serbien ereignen. Diese wurden als Produkt der ‘Balkanmentalität’ angesehen, als ‘Neigung’ zu irregulärer Kriegsführung, die durch Militäreinsatz unterdrückt werden müsste.  Die Deportation von Zivilpersonen, die bereits 1914 einsetzte, verbreitete sich schneeballartig nach Rumäniens Kriegseintritt 1916 und nach dem Aufstand von Toplica 1917. Zwischen 150.000 und 200.00 serbische Zivilpersonen aller Altersgruppen – männlich wie weiblich – wurden in Internierungslager in Österreich-Ungarn und Bulgarien verbracht. Wichtigstes Ziel dieser Maßnahme waren Intellektuelle, Geistliche und aktive Mitglieder politischer nationaler Organisationen.

Deutsche Autoritäten deportierten einige Internierte ins Deutsche Reich und ins Osmanische Reich einschließlich Konstantinopel, Anatolien und Mesopotamien, wo sie als Zwangsarbeiter beim Bau der Baghdad-Eisenbahn eingesetzt wurden. Eine hohe Sterblichkeitsrate aufgrund von Krankheit und Hunger in Verbindung mit den desaströsen Kriegsverlusten und einem Fall der Geburtenrate waren die Ursache für eine weitgehende Entvölkerung der besetzten Gebiete.” – Quelle: Milan Ristović: „Occupation during and after the War (South East Europe)“, in:  1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, Berlin 2014-10-08. DOI: http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10481, access 22.10.2015)  6, 19, 50, 269, 278

Österreicher  6, 14, 18, 19, 28, 34, 48, 90, 101, 125, 161, 166, 171, 172, 175, 180, 202, 256, 264, 265, 268, 269

(...)

 

Prizren (Stadt im Süden des Kosovo am Fuß des Šar Planina, unweit des wichtigsten Grenzübergangs zu Albanien. Sie ist Amtssitz der gleichnamigen Großgemeinde. – Prizren spielt in der Geschichte des Kosovos eine wichtige Rolle. Es war für die Serbisch-Orthodoxe Kirche ein religiöses Zentrum und während Jahrhunderten eine der größten Städte und Handelszentrum der Region. – Nach dem Ersten Balkankrieg 1912/13 fiel das Kosovo

[319]

mit Prizren vom Osmanischen Reich an das Königreich Serbien. Ende 1918 wird die Stadt Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien). Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Prizren; https://en.wikipedia.org/wiki/Prizren, access 24.09.2015. Die englische Wikipedia schildert eingehend die mit dem 1. Balkankrieg einsetzenden heftigen interkulturellen und interethnischen Auseinandersetzungen, hier vor allem zwischen Serben und Albanern, die bis heute nicht erloschen sind – im Gegenteil! Es ist Nušić selber, der einsichtsvoll und diplomatisch zurückhaltend „von übertriebener Strenge des Regimes” spricht [hier S. 238]. – Zu Prizren als Ausgangspunkt für den Rückzug der serbischen Regierung und Armee Ende November 1915 siehe hier Ljum Kula)  7, 74, 76, 79, 93, 129, 142, 158, 161-162, 166, 181, 191, 200, 219, 236, 238-239, 243, 247, 249, 258-260, 265, 269, 271, 273, 275

(...)

 

Serbien (Die ersten Offensiven der Österreicher von August bis Oktober 1914 konnte die serbische Armee noch abwehren, erlitt aber empfindliche Verluste. Ein schwerer Schlag war der Ausbruch einer Seuche im Winter 1914/15. Zehntausende Soldaten starben aufgrund der Kämpfe und der schlechten Versorgungslage. Im Juli 1915 besetzte Serbien das benachbarte Albanien. Im Zuge einer koordinierten Offensive der Mittelmächte gegen das Land im Oktober 1915 zur Bereinigung der Balkanfront griffen jedoch österreichische, bulgarische und deutsche Truppen Serbien von drei Seiten an. Die serbische Armee entging zwar der völligen Vernichtung, musste sich aber bis zur Adria zurückziehen und erlitt dabei Verluste von weit über 90 Prozent der ursprünglichen Stärke. Währenddessen führten die Mittelmächte im besetzten Land ein strenges Besatzungsregime, dem die Serben mit Partisanenaktionen hartnäckig Widerstand entgegen setzten. Mit der Niederlage der Mittelmächte 1918 ging auch Serbien trotz hoher Verluste als Siegermacht hervor. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Serbien, accesss 24.09.2015)

Peter Gatrell fasst die Ereignisse der ersten beiden Kriegsjahre und ihre Folgen für die Serben in Form von Vertreibung und anschließenden Flüchtlingsströmen im eigenen Land in der „International Encyclopedia of First World War” am bündigsten zusammen:

„Ein Resultat der habsburgischen Aggression gegen serbische Zivilisten, kleine Städte im serbischen Hinterland, die bis jetzt einige wenige Tausend Einwohner betraf, war das Anwachsen um den Faktor zehn und mehr: so schwoll die Bevölkerungszahl in Prizren in wenigen Tagen von 20.000 auf 150.00 an. Am schlimmsten kam es ein Jahr später, als die kombinierte österreichisch-bulgarische Intervention mit deutscher Unterstützung zur Einnahme eines Großteils des Landes führte. Die verbliebenen serbischen Kräfte zogen sich durch das Kosovo an die Adriaküste zurück, wobei sie von albanischen Guerillas attackiert wurden. Fast eine halbe Million Zivilisten folgte der fliehenden serbischen Armee, um den zu erwartenden Konsequenzen der bulgarisch-habsburgischen Okkupation zu entgehen. Der Einmarsch der bulgarischen Armee in den Norden Serbiens im Jahr 1916 löste eine Massenflucht von Zivilisten nach Süden aus. Nach dem gleichen Muster wurde das Eigentum der griechischen Bevölkerung, die vor der bulgarischen Okkupation floh, in Mazedonien beschlagnahmt. Diese katastrophale Flucht und Vertreibung von Soldaten und Zivilisten betraf unmittelbar ein Drittel der Vorkriegsbevölkerung Serbiens.“

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Quelle: http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/refugees, access 24.09.2015.

Anzela Eloeva zeichnet die Leiden der serbischen Nation, dabei thematisch oft an Nušić anknüpfend, in ihrem Aufsatz „Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Serbien”, sehr engagiert nach und kommt zu dem Schluss: „Im Ersten Weltkrieg hatte Serbien die größte Zahl von Toten unter allen Kriegsteilnehmern zu verzeichnen: 1,2 Mio., d.h. 53 Prozent der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 55 Jahren [...].”   Quelle: http://www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PKGG/Geschichte/geschichte-suedost-osteuropa/studium/exkursionen/vojvodina/essays-erinnerungen-erster-weltkrieg-serbien.html, access 24.09.2015)  7, 26-28, 31, 32, 35, 37-39, 40, 41, 46, 47, 48, 51, 58, 86, 91, 93, 95, 100, 125, 131, 132, 135, 153, 169, 171, 172, 186, 191, 223, 227, 236, 242, 248, 268, 270, 275, 276

(...)

 

Skadar (Shkodra; albanisch auch Shkodër; deutsch veraltet Skutari;  ist eine Stadt in Nordalbanien. Sie liegt zwischen dem Skutari-See und den Flüssen Kir, Drin und Buna. Die Grenze zu Montenegro ist über die Straße nur 34 Kilometer entfernt. 1914 wurde Shkodra dem gerade unabhängig gewordenen Albanien zugeordnet. Im 1. Weltkrieg stand die Stadt von 1916 bis 1918 unter österreichischer Besatzung. Nach dem Krieg folgten die Franzosen, die Shkodra 1920 an den jungen Staat Albanien übergaben. – Für die von Prizren aus geflohenen Serben war es im Winter 1915/16 eine höchst ungemütliche Zwischenstation. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Shkodra; die diplomatischen Verwicklungen jener Zeit beschreibt wiederum sehr genau Fürst G.N. Trubeckoj, S. 212-228 [vgl. hier „Dečani”], access 24.09.2015)  6, s247, 263, 267

 

Skopje (Serbisch: Skoplje; Türkisch: Üsküp, ist heute die Hauptstadt Mazedoniens. Es liegt im Norden der Republik Mazedonien, etwa 18 km südlich der Grenze zum Kosovo. Von Westen nach Osten durchfließt der Fluss Vardar das Stadtgebiet, im Süden erhebt sich der Hausberg Vodno. Die Stadt gibt dem Becken von Skopje seinen Namen, welches Skopje (10%) und zahlreiche andere Gemeinden (90%) umfasst. Zum Osten hin öffnet sich diese Hochlandschaft und geht in das breite und fruchtbare Tal des Vardars über, welches Mazedonien von Nordwesten nach Südosten durchzieht. — In den Balkankriegen wurde Skopje am 25. Oktober 1912 durch die serbischen Streitkräfte erobert und geriet unter die Herrschaft von Belgrad. Die serbischen Truppen richteten ein regelrechtes Blutbad in der Stadt an. Albanische und türkische Häuser wurden in Brand gesetzt, Menschen wurden geköpft und ihre Leichen in den Straßen aufgestapelt. Laut einem Bericht von Leo Trotzki wurden nicht nur Männer, sondern auch Hunderte von Kindern und Frauen lebendig in Brand gesetzt. Durch die neue Grenzziehung nach den Balkankriegen 1912 und 1913, als Bitola zur Grenzstadt mit Griechenland wurde, begann der Aufstieg Skopjes zum vorläufig unumstrittenen Zentrum „Südserbiens“. Während des Ersten Weltkrieges wurde es dann

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am 10. Oktober 1915 von bulgarischen Truppen eingenommen. Dabei zündeten die Serben bei ihrem Abzug den nördlichen Teil der Stadt an, was große Schäden an historischen Bauwerken verursachte. 1918 wurde Skopje von Serbien zurückerobert und gehörte wie auch das ganze heutige Mazedonien danach zum Königreich der Serben. —

Tiefgründiger und eindrucksvoller als jeder historische Fachartikel erfasst die Intuition des amerikanischen Kriegskorrespondenten John Reed im September 1915  im Auftrag des New Yorker „Metropolitan Magazine” die besondere Lage Maz[k]edoniens, eine geographische Bezeichnung, die wir bei Nušić vergebens suchen:

„Die Makedonische Frage war der Grund für jeden großen europäischen Krieg der letzten fünfzig Jahre, und solange diese nicht geregelt ist, wird es weder in den Balkanländern noch außerhalb von ihnen Frieden geben. Makedonien ist der fruchtbarste Mix von Rassen, den man sich vorzustellen vermag. Türken, Albaner, Serben, Rumänen, Griechen und Bulgaren leben hier Seite an Seite, ohne sich zu vermischen – und so leben sie seit den Tagen des Heiligen Paulus. Auf einer Fläche von fünf Quadratmeilen findet man sechs Dörfer mit sechs verschiedenen Nationalitäten, jedes mit seinen eigenen Gebräuchen, seiner eigenen Sprache und  seinen eigenen Traditionen. Aber die große Mehrheit der makedonischen Bevölkerung sind Bulgaren; bis zum Ersten Balkankrieg hätte dies nie ein intelligenter Grieche oder Serbe oder Rumäne bestritten. So gut wie alle großen bulgarischen Männer kamen aus Makedonien. Als Makedonien türkische Provinz war, waren sie die ersten, die hier nationale Schulen gründeten; und als die bulgarische Kirche gegen das Griechische Patriarchat in Konstantinopel  revoltierte – keine einzige Kirche auf dem Balkan ist frei – erlaubten die Türken die Einsetzung eigener Bistümer, weil es evident war, dass Makedonien bulgarisch war. Ambitionierte serbische Nationalisten folgten dem bulgarischen Beispiel mit der Einrichtung von Schulen in Makedonien und sandten comitadjis [nationalistische Insurgenten] dorthin, um den bulgarischen Einfluss zu bekämpfen; doch serbische Wissenschaftler und politische Führer hatten über hundert Jahre lang anerkannt, dass Makedonien von Bulgaren bewohnt war. Die Serben breiteten sich nicht nach Süden aus; sie kamen vom Norden und zogen durch Bosnien, die Herzegowina, Dalmatien, sogar bis über Triest hinaus – das war der Weg ihrer logischen Ambitionen.“  John Reed schildert den quasi vor seinen Augen sich abspielenden heillosen Prozess der ‘ethnischen Säuberungen’, den auch der zur Schlichtung berufene russische Zar Nikolaus II. nicht mehr aufzuhalten vermochte. [Vgl. John Reed: The War in Eastern Europ. New York 1918, S. 300 f. ; S. 301-319; heute auch als eBook bei www.amazon.de kostenlos verfügbar.]

Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Skopje; https://en.wikipedia.org/wiki/Skopje, access 24.09.2015; knapp und übersichtlich der Artikel von Andreas Ernst in der Neuen Zürcher Zeitung, 03.11.2012: „Vor 100 Jahren begannen die Balkankriege. Auftakt zur Katastrophe.” Quelle: http://www.nzz.ch/feuilleton/auftakt-zur-katastrophe-1.17752603; access 24.09.2015) 6 f., 22, 28, 31, 32, 36, 37, 38, 47, 49-58, 66, 67, 73, 74, 85, 90, 91, 98, 125, 136, 142, 195, 200, 213, 218, 219, 247

(...)

 

Tchernoff, Sam[p]son [Manchmal auch als Tschernoff, Sampson. Eigentlich russisch: Černov, Samson] (1887-1929. Keine Darstellung der serbischen Kriege von 1912-1918 kommt heute ohne Erwähnung des russisch-jüdischen Fotographen und Kriegsreporters Samson Tchernoff aus [hier in der französischen Schreibung seines Namens, wie sie sich eingebürgert hat]. Sein von den beiden Balkankriegen 1912/13 vor allem in österreichischen Archiven erhalten gebliebenes Fotoarchiv wurde von serbischer Seite als Musterbeispiel ‘visualisierter’ Geschichte nach 1990 erfolgter Rückgabe durch Österreich 2004 in einem umfangreichen dreisprachigen Fotoband – serbisch, russisch, englisch – vorgestellt. Die vom serbischen Verlag wohl aus Kostengründen gewählte Reproduktionstechnik in Schwarz-Weiß lässt allerdings nur wenig ahnen von der hohen Qualität der mit einer Tudor Spiegelreflex Rollfilmkamera (10x15) gemachten Aufnahmen. Folgt man den im Detail wenig ergiebigen Quellen, kam der 17-jährige Samson etwa 1904 von Rjazan nach St. Petersburg und wurde von dort aus als Reportagefotograph vom Petersburger Altmeister dieses Genres, dem aus Preußen gebürtigen Karl Karlovič Bulla [Carl Oswald Bulla, 1853/55-1929] in den Russisch-Japanischen Krieg [1904/05] geschickt, um sich seine ersten Meriten zu erwerben. Bulla hatte auch gute Beziehungen zum serbischen Königshof, den er 1910 belieferte. Obwohl seine ebenfalls als Fotographen aktiven Söhne beide Opfer des Stalinschen Terrors wurden, hinterließ er an die 240.000 Negative. Von der überragenden technisch-künstlerischen Meisterschaft der russischen Fotographie legte der 1989 im Berliner Nishen Verlag erschienene Bildband „Das Russland der Zaren. Photographie von 1930 bis zur Oktoberrevolution” eindrucksvoll Zeugnis ab. Der 1912/13 aus Russland nach Serbien als Kriegsfotograph in die beiden Balkankriege geschickte Samson Černov  findet sich bei Nishen nicht. Und das hat seine besondere Bewandtnis: Er sympathisierte als russischer Jude nicht mit den ‘Bolschewiken’, wie es uns die Nazipropaganda einhämmern wollte, sondern war Anhänger der ‘Weißen’ und somit auch des serbischen Königshauses. Die beste ‘Gesamtdarstellung’ seines Lebens und Wirkens stammt dennoch aus einer sehr versteckten russischen Internetquelle, die wir hier übersetzt und, wo nötig, ergänzt anführen.

„Es heißt, Kriegskorrespondent sei ein gefährlicher Beruf. Allein, Kriegsfotokorrespondent ist noch gefährlicher. Es ist einfach Heldentum. Ein solcher Held war der russische Jude Samson Tchernoff. Seinen Mut als Kriegsfotokorrespondent bewies er bereits im Alter von 17 Jahren im Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905). – 1912, als der Balkankrieg begann, reiste er als Kriegsfotokorrespondent nach Serbien und schickte seine Fotographien von der Front an das französische Journal ‘L’Illustration’, nach Russland an die ‘Neue Zeit’ und ‘Das Russische Wort’. 1913 nahm er zwei kurze Dokumentarfilme für Pathé-Journal in Paris auf – ‘Nach der Einnahme  von Adrianopol‘ (Serbisch Jedrene) und ‘Die Schlacht an der Bregalnica’.  Im Oktober 1915 wurde nach seinen Aufnahmen von 1914 des Königs Peter im Kreis des Generalstabs eine Briefmarkenserie herausgegeben, die in Niš gedruckt wurde. Bekanntlich war das die erste und letzte Briefmarkenserie, die in Serbien während des Krieges unmittelbar vor dem Rückzug der serbischen Armee durch Albanien erschien. Gemeinsam mit der Armee [327]

trat Samson Tchernoff diesen Rückzug an – zu Fuß durch die albanischen Berge, zusammen mit den Serben Hunger und Kälte erduldend und dennoch fotographierend.

Der Premierminister der serbischen Exilregierung Nikola Pašić schickte ihn nach London, damit er dort eine Ausstellung – ‘Die Serben im Dezember1915’ – seiner Fotographien und Aquarellzeichnungen organisierte. Die Ausstellung wurde am 5. Juli 1916 in den ‘Royal Institute Galleries’ durch den russischen Großfürsten Michail Michajlovič (1861-1929), einen Onkel von Zar Nikolaus II., in Anwesenheit von N. Pašić, den Gesandten aller verbündeten Länder, und 600 geladenen Gästen eröffnet. S. Tchernoff hielt einen Vortrag über den Kampf des serbischen Volkes gegen die Türken, Deutschen, Österreicher und Ungarn.”

[Die Wirkung dieser, wie wir heute sagen würden, sehr gelungenen ‘Psyop’, um die englischen Allierten weiterhin positiv für die serbische Sache einzunehmen, war außerordentlich. Noch heute ist das seinerzeit erschienene Ausstellungsalbum Tchernoffs populärstes Werk: Tchernoff, Sampson: La Guerre de Cinq Ans. Les Serbes en 1912-1916. The Five Years War. London: „Royal Institute Galleries”, [1916], Format: 17x21 cm, 27 Fotographien. Leicht auffindbar unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category: Sampson_Tchernoff, access 01.11.2015. – Manche dieser Aufnahmen finden sich auch in: Perišić, Miroslav u.a. (Hg.):  Balkanski ratovi: Foto-zapis Samsona Černova –  Balkan Wars. Beograd : „Arhiv Srbije” , 2010. - XXVIII, 492 S. Text engl. russ. und serb.] –

„Zurückgekehrt auf die griechische Insel Korfu, wo sich die serbische Exilregierung niedergelassen hatte, trat S. Tchernoff am 16. Juli 1916 zum orthodoxen Glauben über. Sein Taufpate war der serbische Kriegsminister Božidar Terzić. Getauft wurde er auf den Namen ‘Alexander’ zu Ehren des serbischen Thronprätendenten, des künftigen Königs Jugoslawiens, der ihm freundschaftlich verbunden war.

Zur Unterstützung der Auslandsserben schickte dieser Tschernoff im März 1918 nach New York, wo er im ‘Grand Central Palace‘ eine Ausstellung seiner Fotographien und Aquarelle organisierte. “

[Im Zusammenhang mit dieser Ausstellung, eine erneut sehr erfolgreiche ‘Psyop’, um die USA zur Hilfe für Serbien zu gewinnen, wurde eine Serie von 10 Farbpostkarten herausgegeben, die heute über die Webseite der Library of Congress als ‘public domain’ aufrufbar sind. Selbst die „New York Times” griff das Ereignis in einem ganzseitigen illustrierten Artikel am 17. März 1918 auf: „Serbia’s Agony Painted by Artist Now Here. Work of Sampson Tchernoff Gives Vivid Idea of Sufferings of the Whole Nation, from King to Humblest Peasant.” Es spricht einiges für die Vermutung, dass Tchernoff hier auch dem Illustrator Boardman Robinson begegnte, der 1915 zusammen mit John Reed in Serbien war und jetzt 1918 in New York mit zwei Postern zur Armen- und Krankenhilfe für Serbien aufrief (siehe hier Seite 2 und Seite 334). Robinson und Reed unterlagen allerdings zu diesem Zeitpunkt als Sozialisten und Pazifisten nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und dem baldigen amerikanischen Eintritt in den 1. Weltkrieg (April 1917) bereits der wenig zimperlichen amerikanischen Kriegszensur.]

„Da er ein Anhänger der ‘Weißen’war, kehrte Tchernoff nicht nach Russland zurück, sondern erwarb 1920 eine Villa in Biarritz (Frankreich), wo er sich mit seiner amerikanischen Frau niederließ. Dort starb er auch im Februar 1929.”

Quelle:  www.yandex.ru : history2014.esrae.ru›pdf/2014/1/10.pdf, access 03.11.2015 [R.V. Polčaninov: „Zabytyj geroj – Samson Černov.”]  8

(...)

 

Trubeckoj, Grigorij Nikolaevič [Trubetzkoï, G.N.] (1873-1930. Nach dem überraschenden Tod des russischen Gesandten in Belgrad, N.G. Gartvig [Nikolaus von Hartwig, siehe hier Pašić] am 27. Juni 1914 wurde Fürst Trubeckoj zum außerordentlichen Gesandten und Bevollmächtigten des Russischen Außenministeriums in Serbien ernannt. Er trat seinen Dienst nach dem Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien am 10. Juli 1914 an, dem die diplomatische Julikrise folgte. Der damalige russische Außenminister S.D. Samsonov beließ ihn daher in Sankt Petersburg bis November 1914. Trubeckoj übernahm die Leitung der Mission, die sich zusammen mit der Regierung rechtzeitig am 8. Dezember nach Niš zurückgezogen hatte, in einer Phase, in der die serbische Armee über die Truppen Österreich-Ungarns siegreich war. Ein Jahr darauf – im Dezember 1915, als aus dem Rückzug der serbischen Armee ein Exodus wurde, folgte er der serbischen  Regierung bis nach Korfu. Am 2. März 1916 bat Trubeckoj das Außenministerium um seine Entlassung und folgte der serbischen Regierung, die in befreundete Länder flüchtete, nach Italien. Von dort  kehrte er über Paris, London und Stockholm  nach Sankt Petersburg zurück. Den Gesandtschaftsposten in Serbien hatte er bis 1917 inne. Seine Aufgaben als Direktor der Diplomatischen Kanzlei beim Stab des Oberkommandos nahm er bis zum März 1917 wahr. Quelle: https://ru.wikipedia.org/wiki/Трубецкой,_Григорий_Николаевич, access 24.09.2015); Trubeckoj, G.N.: Russkaja diplomatija 1914-1917 gg. i vojna na Balkanach [Die russische Diplomatie von 1914-1917 und der Krieg auf dem Balkan]. Montreal 1983 – Mit vielen auch bei Nušić auffindbaren Orten und Szenen.)  26

(...)

 

Wilhelm II. (1859-1941; von 1888-1919 letzter Deutscher Kaiser. Aus seiner Verachtung für Serbien machte er nie einen Hehl, vor allem nicht am Vorabend des 1. Weltkriegs – „nur feste auf die Füße des Gesindels getreten“ (24. Juli 1914; vgl. Röhl, John C.G.: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900-1941. München: „C.H. Beck”, 2009 (2. Aufl.), S. 1100), oder „die Serben sind Orientalen, daher verlogen, falsch und Meister im Verschleppen” (28. Juli 1914) – , als es darum ging, eine Begründung zu fabrizieren, die es dem Verbündeten Österreich-Ungarn ermöglichen würde, Serbien den Krieg zu erklären, was dann am 28. Juli 1914 auch geschah. Quellen:  Karl Kautsky: Wie der Weltkrieg entstand. Kapitel 12. Das Ultimatum an Serbien;  https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1919/krieg/12-ultimatum.html, access 24.09.2015; wieder abgedruckt in: Peter Becker (Hrsg.): 1914 und 1999 – Zwei Kriege gegen Serbien. Auf dem Weg zum Demokratischen Frieden? Baden-Baden: „Nomos”, 2014.  – Am 18. Januar 1916 inspizierte Wilhelm II. dann bei einem Besuch in Niš die nach dem Exodus der serbischen Armee und Regierung nach Korfu neu entstandene Kriegslage. Die am 15. Janaur 1916 von der Mitropa neu eröffnete Zugverbindung Berlin – Budapest – Belgrad – war nach dem kriegsbedingten Wegfall des Pariser Orientexpress’ wegen der jetzt erfolgten Niederlage Serbiens eine ebenso komfortable wie prestigeträchtige Verbindung bis nach Sofia und Konstantinopel. Diese Verbindung konnte Wilhelm II. jetzt mit seinem ach so geliebten Hofzug für sich nutzen. [Vgl. Paul Dost: Der rote Teppich. Geschichte der Staatszüge und Salonwagen. Stuttgart 1965, S. 141ff.]) Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg - /media/File:FerdinandOfBulgariaAndKaiserWilhelmII.jpg „Wilhelm II., Ferdinand I. von Bulgarien und Generalfeldmarschall von Mackensen in Niš, Serbien“, access 04.11.2015)  30, 43

 

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