Bernd von der Walge
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Die Stadt

Kurzerzählung von Branislav Gjorgjevski

 

Jede Stadt ist so groß, wie ihre Lichter reichen. Und die Stadt in dieser Geschichte war wirklich groß. Ihre Lichter sah man von sehr weit. Und Tag für Tag spielten sich unter diesen Lichtern auf verschiedenen Bühnen unterschiedliche Geschichten ab. Wie in jeder anderen Stadt im Übrigen auch. Irgendwo dort am Ende der Stadt, im vollen Mondlicht, standen ganz gewöhnliche Einwohner. ER und SIE oder SIE BEIDE, oder es hätte wer auch immer sein können. In der angenehmen Sommernacht litt er an Herzrasen, verursacht durch zu viel Nikotin. Sie … sie litt an gar nichts. Wenigstens sah es so aus. Obschon das ungeschickte Trommeln der Finger eine gewisse Nervosität verriet, ihrem Blick war nichts davon anzumerken.

»Nur noch ein Tag«, wandte er sich an sie in der Absicht, das Schweigen zu brechen.

»Ja«, antwortete sie knapp.

»Ich kann es noch gar nicht glauben.«

»Wie fühlst du dich?«

»Ich weiß nicht. Ich fürchte, ich bin trotz allem glücklich, weil ich weggehe.«

»Aha. Obwohl du das gar nicht müsstest. Weggehen.«

»Ich muss. Diese Stadt ist mir schon seit langem zu eng. Und du weißt, dass dies meine letzte Chance ist.«

»Und ich? Was ist mit mir?«

»Du? Wir wissen doch beide, dass du nachkommst. Wir gehören beide nicht mehr hierher. Dir ist doch völlig klar, dass du auch weggehst.«

»Aber was, wenn ich es nicht schaffe? Was, wenn du nicht auf mich wartest? Was, wenn wir in irgendeiner [37] anderen Stadt völlig andere Menschen sind als die, die wir jetzt sind?«

»Sei nicht albern. Wenn mir jemand anbieten würde, bis ans Ende der Welt zu gehen, mit nur einer anderen Person, was glaubst du, wen würde ich da wählen?«

»Ich glaube überhaupt nichts. Ich habe Angst, weiter zu grübeln. Ich habe sogar Angst zu träumen.«

»Ich träume auch nicht. Siehst du, diese Stadt nimmt uns sogar unsere Träume.«

»Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich darüber nachdenke, dass wir hier drei Leben verbraucht haben. Ich weiß nicht, vielleicht sind wir zu früh reif geworden. Und vielleicht hat uns diese Frühreife daran gehindert, das Träumen zu lernen. Und obwohl so viel Leben in diesen wenigen Sekunden Traum liegt, entscheiden wir uns trotzdem leicht für traumlose Nächte. Wir haben die Träume verloren und mit ihnen das Leben. Und ich glaube, es gibt keine größeren Verlierer als uns. Als uns alle, die wir die vergiftete Luft in dieser Stadt verbrauchen.«

»Nein. Wir sind geborene Sieger. Jeder in dieser traurigen Stadt überlebte Tag ist für uns ein Sieg, und jeder neue Morgen eine Schlacht, die wir gewinnen müssen. Und jetzt ist es genug. Deshalb gehen wir weg. Schon morgen.«

»Du bist es, der morgen weggeht! Ich vielleicht später, vielleicht nie, und die Frage ist, ob wir irgendwo wirklich glücklich sein werden. Vielleicht sollte ich auch gar nicht weggehen, ich weiß nicht.«

»Du hast Angst, wegzugehen. Gut, dann hör aber auf, dich zu beklagen, dass wir alle leere Leben leben. Siehst [38] du, auch mir ist alles völlig klar. Und wir können bis morgen früh darüber reden, dass keiner von uns hier etwas schaffen kann, keiner wird sich mit irgendetwas ein Denkmal setzen, was hier gesät wird, daraus geht nichts hervor, doch eines müssen wir uns fragen. Bringen wir uns wirklich ganz ein? Wenn jemand alles zusammennähme und uns wegnähme, bliebe uns dann etwas, von dem wir mit Sicherheit sagen könnten: ‘Ja, das sind wir.’? Und das hat nicht das Geringste mit Reife und mit Wachstum zu tun. Alles hat mit diesem verwünschten menschlichen Gen zu tun, das sagt, dass uns nichts reicht. Und auch nie reichen wird. Und wir können diese Unterhaltung ruhig beenden und in ein, zwei Jahren wieder aufnehmen. Und dann werden wir uns beide wieder beklagen, dass uns bloß noch Eines fehlt, um den Kreis des Ausgefülltseins schließen zu können. Und dann wird uns genau wie jetzt die Angst wie ein Anker am Boden festhalten. Und wir werden immer noch Angst haben, unsere Ketten abzuwerfen und zu fliegen. Aus Angst, dass wir irgendwo wieder vor Anker gehen müssen, aber nicht wissen werden wo. Und deshalb habe ich aufgehört, Angst vor dem Fliegen zu haben. Ich weiß nicht, ob ich an dem Ort, an dem ich leben werde, glücklicher sein werde, aber ich werde wenigstens die Chance haben zu versuchen, glücklich zu sein. Mit dir oder ohne dich.«

»Sogar auch ohne mich?«

»Ja, sogar auch ohne dich«, gab er ihr zur Antwort, während er sich eine neue Zigarette ansteckte.

»Dann ist mir alles klar. Ich hätte wissen müssen, dass ich mit dir keine Zukunft habe.« [39]

»Ich kann dir keine Zukunft schaffen. Ich kann nur ein kleiner Teil davon sein. Und an dir liegt es, ob du mir das erlaubst …«

»Es liegt nicht an mir, entschuldige. Du läufst vor mir davon.«

»Mir reicht’s. Ich gehe schlafen.«

»Das Beste an dir ist die Leichtigkeit, mit der du Menschen für dich einnimmst. Doch noch viel schrecklicher ist gleichzeitig die Leichtigkeit, mit der du sie enttäuschst. Mach’s gut.«

Der Gedanke legte sich völlig gelassen auf die geteilte Stille und die leeren Blicke. Er kannte solche Blicke, solche, die dem anderen zu verstehen geben, dass um einen her niemand ist, selbst wenn einen jemand berührt. Und irgendwie begriff er durch einen solchen Blick endlich etwas, was ihm längst hätte klar sein sollen. Ja, manche Kapitel beenden sich von ihrer Natur her selber. Sie dauern nur kurz und sind besonders schön. Und jeder Versuch dessen, der sie schreibt, sie zu verlängern, würde nur zu einer unverständlichen, langweiligen Lektüre führen, die keiner lesen wollte. Nicht einmal der Autor selbst. Vieles veränderte sich von diesem Abend an. Von da an begann sie, an seinen Verhaltensweisen, Einschätzungen und Schlussfolgerungen zu zweifeln. Doch eines stellte sie nie in Frage. Sie zweifelte nie an der Größe ihrer eigenen Verrücktheit. Und hier endete ihre Geschichte. Eine Geschichte, die vielleicht auf irgendeiner anderen Bühne eine Fortsetzung findet. Oder niemals irgendeine Fortsetzung erlebt. Keiner weiß das. Nicht einmal die beiden selbst. Wie dem auch sei, ungefähr zu der Zeit, als diese Geschichte zu Ende ging, fing am anderen Ende, bei [40] den ersten Gebäuden der Stadt, eine neue Geschichte an. Mit zwei anderen ER und SIE.

»Ich kann nicht glauben, dass wir endlich angekommen sind«, sagte er erregt.

»Endlich sind wir hier. Ich bin unbeschreiblich glücklich.«

»Stell dir nur vor, dass wir schon von morgen an hier zu leben beginnen werden. Dass es eine Million Orte gibt, die wir zu erforschen haben, und Tausende von Menschen, die wir kennenlernen müssen.«

»Ich stelle es mir vor«, entgegnete sie mit einem Lächeln. »Ich stelle mir ein neues Kapitel vor. Weißt du, ich fühle mich irgendwie heiter und verjüngt. Unsere Stadt hat uns irgendwie älter gemacht.«

»Unsere frühere Stadt. Jetzt ist dies hier UNSERE Stadt. Und ja … ich glaube, dass ich schon heute Nacht träumen kann. Etwas, was mir schon lange nicht mehr passiert ist.«

»Ich spüre, dass wir in dieser Stadt eine Zukunft haben.«

»Ich fühle mich ausgefüllt. Ich spüre, dass wir endlich etwas schaffen können. Dass wir wirklich leben werden. Diese Stadt ist schön, so im vollen Mondlicht.«

»Die Welt ist bei Vollmond schön.«

»Gehen wir hinein?«

»Ja! Gehen wir in das, was von jetzt an unser Zuhause sein wird.«

Und sie gingen hinein. In eine kleine Wohnung am Anfang der Stadt, die ihnen Glück, Ruhe und all das andere bieten sollte, das sie in ihrer früheren Stadt nicht gehabt hatten. Und damit war ihre Einführung in die Geschichte beendet. Vor ihnen lagen noch viele Kapitel, verstreut überall auf die Stadt. Es war eine große Stadt. [41] Ihre Lichter reichten sehr weit, ihre Straßen boten alle möglichen Geschichten. Es war eine große Stadt, oder sie schien einfach so. In Wirklichkeit war sie gar nicht groß. Überhaupt nicht. Keine einzige Stadt ist groß genug, um all die Träume aufzunehmen, die in ihr geträumt werden. 

 

(Aus dem Mazedonischen von Erika Beermann, September 2016)

 

Copyright der deutschen Version Bernd E. Scholz

 

Im Juni 2017 erschien "Die Stadt" -- "The City" in der englischen Übersetzung von 

Christina E. Kramer (University of Toronto)

in der literarischen Online-Zeitschrift M-Dash

 

"Every city is only as big as the expanse of its lights. The city in this story was really big. Its lights could be seen from far off. Every day under these very lights, in various settings, various stories played out. Just, incidentally, like in every other city. Somewhere at the exit from the city, in the full moon light stood two completely normal city residents. He and She, or They; they could have been anyone. On that pleasant summer night he was carrying a tachycardia inside him brought on by too much nicotine. She…she wasn’t carrying anything. At least that’s how it appeared. However, the awkward tapping of her fingers exposed a nervousness, not visible in her expression."

 

https://mdash-ahb.org/current-issue-2/1-issue-11-spring-2017/the-city/

 

 

Vom breiten Spektrum der modernen mazedonischen Literatur zeugt auch eine Zusammenstellung der bisherigen englischen Übersetzungen Christina E. Kramers.

 

https://mapworldliterature.wordpress.com/2016/12/07/9/

 

[She] provides plenty of reasons to get excited about Macedonian literature ...“

 

 

 

 

 

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